zum Hauptinhalt

Kultur: Der Gräfin Dönhoff auf der Spur

Ob es wirklich immer so familiär zuging, ob Marion Gräfin Dönhoff tatsächlich nur so liebenswert und schrullig war, wie ihr Großneffe Friedrich es im Lesesaal der Stadt- und Landesbibliothek vermitteln wollte? Kaum vorstellbar, dass die Chefredakteurin, später Herausgeberin der mächtigen Wochenzeiteung „Die Zeit“, nicht auch mal hart und ruppig mit den Ihren umgegangen wäre.

Stand:

Ob es wirklich immer so familiär zuging, ob Marion Gräfin Dönhoff tatsächlich nur so liebenswert und schrullig war, wie ihr Großneffe Friedrich es im Lesesaal der Stadt- und Landesbibliothek vermitteln wollte? Kaum vorstellbar, dass die Chefredakteurin, später Herausgeberin der mächtigen Wochenzeiteung „Die Zeit“, nicht auch mal hart und ruppig mit den Ihren umgegangen wäre. Alter bringt ja oft mehr Weisheit als billige Vernunft hervor, und vielleicht sagt man seinem Lieblingsneffen andere Sätze, als einem, dem man weniger vertraut?

Friedrich Dönhoff, in der Öffentlichkeit auf seinen Adelstitel genau so verzichtend wie sie, stellte vor meist weiblichem Publikum sein neues Buch mit Erinnerungen an eine Gemeinsamkeit vor, die von Kamingesprächen und Spaziergängen an Hamburgs Elbe bis in die Kinos der Hansestadt reichte. Sein Leseauftritt, so kurz wie effektiv, berührte fast ausschließlich die menschlichen Seiten der alten Dame, die er stets Marion nennt. Nach kaum einer Stunde schickte der 1967 geborene Hamburger sein Publikum nach Hause. Was die Gräfin des Jahrganges 1909 biografisch betrifft, muss man nicht zum tausendsten Male wieder erzählen, im Dezember feierte man ja weit und breit ihren Hundertsten; dass sie um 1929 in Potsdam das Abitur machte und fechten lernte, dürfte allerdings weniger interessant sein als die Tatsache, dass sie mit Fünfzehn ihr erstes Todes-Erlebnis hatte.

Im Auto stürzte sie metertief in einen Fluss, konnte sich als Letzte retten, zwei der Ihren ertranken. Mit der Frage „Warum habe gerade ich überlebt?“ öffneten sich ihr wichtige Dimensionen jenseits der blanken Vernunft: Sie glaubte fest an ihren Schutzengel, „an das Schicksal“, dem man freilich aktiv viel dazutun müsse, ist es erst einmal erkannt. Dann aber gelänge alles. Sie ist in einem sehr religiösen Umfeld aufgewachsen, doch im Alter war ihr alle Konfession egal: Es gibt dieses eine Zentrum, sagte sie dem Großneffen, alle Religionen seien von ihm gleichweit entfernt. Sie hat in ihrem Leben gelernt, auf den Zufall zu vetrauen, „die Antithese der Planung“. Keine schlechte Wahl! Dieses „Etwas ordnet alles“ war wie ein Gefühl, genauer wollte sie es gar nicht wissen.

Wenn sie beim Blitzen fast beleidigt reagierte, weil sie auf der Elb-Chaussee in ihrem Porsche nicht „Sechsundfünfzig“, sondern eigentlich achtzig fuhr und auch sonst manche Schrulle inszenierte, die der Großneffe nicht durchschaut, so mag das erheitern. Die Frage „Heirat oder nicht?“ entschied – da konnte die Liebe so groß nicht sein – allerdings ein Streichholz-Los. Spätere Rechtfertigung: „Verheiratet hätte ich dieses Leben nicht führen können!“ Na, ja. Wenn sie aber meinte, mehr Waffen brächten nicht automatisch auch mehr Macht und stets zum Zivildienst riet, um genau diesem Trugschluss zu entgehen, so war man beim politischen Alltag angekommen, welchen sie dem zwölfjährigen „Spiegel“-Leser Friedrich Dönhoff schon 1980 ans Herz gelegt hatte.

Äußerlich war sie sparsam und anspruchslos, telefonierte ungern, weil es ihr zu teuer war, und trug alte, ausgebesserte Konfektion, die sie 30 Jahre später auf Platz fünf der „bestangezogenen Frauen Deutschlands“ brachte. Ihre Lebenssumme: Ob nun Politik, Wirtschaft, Kultur, Börse, Militär oder sonst was – letztlich sei alles nur „eine Frage der Mode“. Daraus folgte das Credo der Dönhoff wie von selbst: Die Welt ist so, wie man sie sieht. Gerold Paul

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })