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Von Dirk Becker: Der Klang der Erinnerung

Ein Glücksfall: Julia Schochs neuer Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“

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Der letzte Anruf der älteren Schwester geht in der Hektik von Reisevorbereitungen fast unter. Sie erzählt von dem Soldaten, den sie wieder getroffen hat, nun zum letzten Mal. Und während sie erzählt, hört ihre jüngere Schwester zu, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, hört nur halb zu, weil sie ihren Pass sucht und Dokumente ordnet, die sie für ihre Reise brauchen wird und, vielleicht auch, weil diese Telefongespräche mittlerweile einer gewissen Routine folgen. Später wird sie, die jüngere Schwester, sich fragen, ob sie vielleicht etwas überhört hat, was ein Hinweis hätte sein können. Eine dieser Fragen, die immer dann gestellt werden, wenn es längst zu spät ist.

„Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ heißt der neue Roman der Potsdamerin Julia Schoch, der gestern in die Buchhandlungen kam und schon vor seiner offiziellen Veröffentlichung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Wenn man nach knapp 150 Seiten das Buch wieder aus der Hand legt, wünscht man der Autorin, dass sie diesen Preis auch bekommt.

In „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ geht die Ich-Erzählerin auf Spurensuche, nachdem sich ihre Schwester in New York das Leben genommen hat. Die Familie spricht von einem Unglücksfall, einer ungewollten Überdosis von Schlaftabletten in dieser so fremden und so lauten Stadt. Doch ihre jüngere Schwester weiß es besser, da sie bestimmte Signale jetzt zu deuten versteht. Denn sie weiß auch schon seit Jahren von dem Liebhaber, der immer nur als „Soldat“ bezeichnet wird, obwohl er das schon lange nicht mehr ist. Aber wie das Wort „Soldat“, ist dieser Liebhaber eine Erinnerung an eine Zeit, der zwar nicht nachgetrauert wird, von der aber etwas Persönliches erhalten bleiben soll, bevor alles im grauen Einheitsmaß der Kollektiverinnerung verschwindet.

Namen, weder von Menschen noch von Städten, werden in „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ nicht genannt. Die Ich-Erzählerin, ihre ältere Schwester und der Soldat sind die Personen, um die es hier allein geht. Der Ehemann der älteren Schwester, die beiden Kinder, die Eltern bleiben nur Randfiguren. Der Ort: „Ein Militärstützpunkt, ein künstliches Gebilde in einer abgeschiedenen Gegend. Ein aus dem Nichts gestampfter Ort, nahe der polnischen Grenze.“ Dieses Nichts – wer will, kann darin den Ort Eggesin, das „Tor zum Stettiner Haff“, sehen, an dem zu DDR-Zeiten Einheiten der Nationalen Volksarmee stationiert waren und Tausende ihren Wehrdienst leisten mussten – wird die neue Heimat der beiden Schwestern. „Die Kinder sind mit den Frauen gekommen, die Frauen sind ihren Männern gefolgt, die Männer einem Befehl.“

Julia Schoch erzählt von dieser Kindheit, von der ersten Liebe der älteren Schwester mit dem „Soldaten“, der Wende von 89 und dem Danach, das einem scheinbar alle Möglichkeiten offen hielt mit einer so klaren,so feinen und so melodischen Sprache, mit der sie einen Ton anschlägt, der, wenn Erinnerung klingen würde, genau der passende wäre. Der Roman ist in kurze Absätze unterteilt, die für sich schon sprachliche Kostbarkeiten sind. Auch wenn diese kurzen Absätze dem Ganzen einen skizzenhaften Charakter geben, gelingen Julia Schoch mit diesen wenigen Sätzen tiefste und pointierte Einblicke. Ob die Heimatlosigkeit der Offiziersfamilien in dieser namenlosen Militärstadt, das stille Leiden der Wehrpflichtigen, die übergroße Sehnsucht nach Veränderung, die sich dann doch nur als Trugbild zu entpuppen scheint, als nach 1989 alle Möglichkeiten offen standen – es erstaunt immer wieder, wie viel Julia Schoch auf den knapp 150 Seiten zu sagen hat.

„Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ ist nach „Im Körper des Salamanders“ und „Verabredungen mit Mattok“ der dritte Roman der 34-Jährigen, die als Tochter eines NVA-Offiziers in Eggesin aufwuchs und seit 1986 in Potsdam lebt. Es ist ein Buch über die Erinnerung, die Liebe, das Vergessen und den Irrglauben, einen Menschen zu kennen. Es ist ein Buch voller Zärtlichkeit über ein Leben, das nicht das gewünschte, aber auch nicht das falsche war. Aber vor allem ist es ein Buch, für das der Leser Julia Schoch nur dankbar sein kann.

Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers, Piper Verlag, München 2009, 160 Seiten, Gebunden, 14,95 Euro.

Julia Schoch liest am morgigen Freitag, 19 Uhr, im Literaturladen Wist, Brandenburger Straße / Ecke Dortustraße, aus ihrem neuen Roman. Der Eintritt ist frei

Dirk Becker

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