Kultur: Der Schmerz einer irdischen Mutter Tóibíns „Marias Testament“ im HOT
Eine schöne Frau hat Michelangelo in seiner Pietà-Skulptur festgehalten: Würdevoll, das engelsgleiche Gesicht vom Schleier umrahmt, hält die Heilige Maria ihren toten Sohn Jesus in den Armen, die Augen niedergeschlagen, den Kopf leicht gesenkt. Sie ist von göttlicher Demut umhaucht – nur der Schmerz, der findet sich nicht.
Stand:
Eine schöne Frau hat Michelangelo in seiner Pietà-Skulptur festgehalten: Würdevoll, das engelsgleiche Gesicht vom Schleier umrahmt, hält die Heilige Maria ihren toten Sohn Jesus in den Armen, die Augen niedergeschlagen, den Kopf leicht gesenkt. Sie ist von göttlicher Demut umhaucht – nur der Schmerz, der findet sich nicht. Der Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verliert, die zusehen musste, wie ihr einziges Kind sich immer weiter von ihr entfernte und am Ende grausam hingerichtet wird. Eine Mutter, die am Schmerz – zerbricht?
Der irische Schriftsteller Colm Tóibín erzählt in seinem Roman „Marias Testament“, der am gestrigen Sonntag in einer Lesung im Glasfoyer des Hans Otto Theaters (HOT) vorgestellt wurde, genau von einer solchen Frau. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive ihre Sicht auf die bekannte Geschichte um Jesus, zweifelt dabei, klagt an und widersetzt sich der Glorifizierung der Geschehnisse, allerdings ohne Erfolg. Die Anhänger ihres Sohnes setzen ihre Version von dem angeblichen Retter der Welt durch und beeinflussen damit die Gedanken von Generationen.
Tóibín stellt seine Leser vor die Aufgabe, Systeme und vor allem die Mythologie der Religionen zu hinterfragen. Gerade Letzteres schafft er sehr subtil, denn er spart die Wundererzählungen um Jesus wie die Auferstehung des Lazarus oder die Wandlung von Wasser zu Wein nicht etwa aus, sondern lässt sie durch Maria anzweifeln, die sich nicht immer sicher ist, was sie gesehen hat. Ihre Zweifel durchziehen den Text mit einem Ton, als würde der Leser stets von einem fragend-klagenden Augenpaar angestarrt. Diesem Ton verliehen die drei HOT-Darstellerinnen Andrea Thelemann, Rita Felmdmeier und Marianna Linden am Sonntag eine wunderbare Stimme. Genau genommen drei Stimmen, denn so einheitlich sie ihre Maria auch formten, so unterschiedlich waren doch die Facetten, die sie von ihr wiedergaben.
Unter der künstlerischen Leitung von Tobias Wellemeyer lasen sie abwechselnd verschiedene Passagen aus dem Roman und schafften vor allem eins: Maria vom Heiligensockel runterzuholen und zum Menschen werden zu lassen. Thelemanns Maria erzählte mit einer fast schon sachlichen, oft auch zornigen Stimme, die Sicherheit ausstrahlte, jedoch nicht davor gefeit war, beim Anblick der Kreuzigung schmerzlich zu brechen. Diese Zerbrechlichkeit, die Angst um ihren Sohn und um sich selbst, all das trug dann wiederum Feldmeier nach außen, äußerst schmerzvoll manchmal. Linden wiederum verkörperte die nachdenkliche, die traurige Maria. Eine Maria, die hinterfragt, aber auch das Leid akzeptiert, das sie tragen muss und trotzdem voller Hoffnung bleibt.
Alle drei waren dabei auf ihre Art wunderbar einfühlend, unaufdringlich zurückhaltend und totzdem so präsent, dass sie im Ensemble eine Einheit bildeten und das Bild einer Mutter zeichneten, wie sie jeder kennen könnte. Eine Mutter, die in ihrem Schmerz vor allem zu einer Erkenntnis kommt: „Wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war.“ Hier stellt sie eine Frage, die aktueller nicht sein könnte: Braucht es Gewalt, Schmerz und die Erschaffung von Heldenbildern, um die Welt zu verbessern? Sarah Kugler
„Marias Testament“ von Colm Tóibín ist erschienen im Carl Hanser Verlag und kostet 14, 90 Euro.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: