Kultur: Der Tag in der Holzkiste
Eine Nacht voller Mythen und Märchen im T-Werk
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Eine Nacht voller Mythen und Märchen im T-Werk Als die Gebrüder Grimm vor 200 Jahren begannen, die von Generationen überlieferten Mythen aufzuschreiben, so taten sie dies, weil sie das Ritual des Weitergebens schwinden sahen. Die lebendige Sitte des Märchenerzählens, so beobachtete Wilhelm Grimm, hatte nur dort gehaftet, „wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war“. Ein solcher Ort in Potsdam ist heute zweifelsohne das T-Werk, das mit seinen Lesungen und Theaterstücken von jeher auf die Erfindungskraft seiner Besucher setzt. Jetzt, in der ungemütlichen Jahreszeit, da mancher vor Kälte und Finsternis in die Ferne flieht, gingen die T-Werker auf eine „Reise um die Welt, erzählt in 80 Märchen“. Während draußen Wintersturm und Regen über die Dächer peitschten, das Geäst der kahlen Bäume ächzte, es hier und da unheimlich knackte, drängten sich drinnen die Zuhörer in die engen Sitzreihen, rutschten auf hinzugestellten Bänken zusammen, die Kinder auf dem Schoß oder auf Matratzen an der Erde, wo sie sich wie Katzen, schnurrend vor Behagen, zusammenrollten. Aus dem Nichts heraus, dem Theaterschwarz, dem leeren Bühnenraum konnte, wer es vermochte, eine japanische Landschaft vor sich erstehen sehen, darin sich die im Buddhismus wurzelnde Geschichte von den „Eicheln und dem Luchs vom Berge“ entspann. Das Theater Nadi, der Tänzer Steffen Findeisen und die Schauspielerin Noriko Seki, erzählten von dem Jungen Ichiro, dem eine Hand voll brauner Eicheln genügten für ein Gedankenspiel um eine mysteriöse Gerichtsverhandlung, in der ein als Samurai verkleideter Luchs über den Streit goldener Eicheln in roten Hosen richten soll, welche der Früchte die besseren seien, die spitzen oder die runden. Die Erzähler traten in zweisprachige Dialoge, deren Sinn sich wie von selbst erschloss. Der Klang des Japanischen, der Witz des Ausdrucks, geriet zur farbigen Illustration der sprachlichen Bilder. Im balinesischen Märchen von der „Prinzessin und dem Geisterfürst“ – von Franka Schwuchow in der schlichten Rolle der Märchenfrau vorgelesen – waren es die traditionellen Maskentänze im prunkvollen Kostüm, die den Vorstellungen auf die Sprünge halfen. Sparsam in seinen Bewegungen ließ Steffen Findeisen hinter starrer Maske vor allem seine Hände sprechen. Die Geschichte selbst erinnerte an Grimms Märchen von den zwölf Brüdern und erzählte so auf eigene Weise von der Verwandtschaft zwischen den Mythen und Legenden der Welt. Um auf der Märchenreise von einem Kulturkreis in den anderen zu gelangen, musste das Publikum zwischen drei Bühnen wandern, vorbei an einer Galerie von großen und kleinen Uhren, einem Sammelsurium von Sandgläsern, antiken Chronometern, hektisch tickenden Weckern und gewichtigen Standuhren mit langsam pendelnden Perpendikeln. Jeder Wechsel ein Wandel wie durch das Haus Horas, des Hüters der Zeit in Michael Endes „Momo“. Niemand schien an diesem Abend die Stunden zu stehlen. Kein Kind musste zu früh ins Bett. Dem friedvollen Ende des einen folgte der spannende Beginn eines anderen Märchens. Die Chilenin Maria José Robolledo erklärte in einer Legende der Ureinwohner Feuerlands „Warum die Welt so ist, wie sie ist“, warum Königin Kre, die Mondfrau, ihre Macht über die männlichen Wesen verlor. Ruhig sitzend erzählte sie auf deutsch, wild gestikulierend auf spanisch. Brennende Fackeln ließen das indianische Lagerfeuer erahnen. Auch die von dem Schweizer Edward Scheuzger gesprochenen Mythen der Azteken gaben wundersame Erklärungen über Erscheinungen in der Natur. An Trommeln und Schlagwerk von Luiz Gonzales unterstützt, offenbarte er mit singender Sprachmelodie, wie es kam, dass ein Rabe das Tageslicht aus einer Holzkiste entließ, damals, als es in der Welt noch finster war. Völlig hell scheint es auf den britischen Inseln nie geworden zu sein. Die dunkelsten Geschichten haben dort ihre Heimat. Das Schauspielerduo Dominik Stein und Timo Sturm ließ mit schwärzestem Humor englisches Blut fließen, dazu Juliane Sprengel und Henny Mirle unschuldige Lieder des Frühbarock sangen. Mütter mit jüngeren Kindern verließen flugs den Ort des Schreckens. Jetzt hatten die Märchenstunden für Erwachsene begonnen. Ein Ende der Märchennacht aber war noch lang nicht in Sicht.Antje Horn-Conrad
Antje Horn-Conrad
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