Von Erika Richter: Der Traum vom Fliegen im Filmmuseum
Carows „Ikarus“ in Reihe „Klassiker des Monats“
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Seine Arme gleich Flügeln ausbreitend, rennt der achtjährige Mathias durch Berlin. Er dreht Schleifen und macht Kurven, wie ein Vogel bewegt er sich durch die Stadt, manchmal zwischen Hochhäusern, dann wieder an Altbauten vorbei. Er steuert seine Bewegungen mit seinen „Flügeln“ und strahlt und lacht und ist glücklich. Er ist überzeugt davon, dass er fliegt. Fliegen ist sein großer Traum. Selbst als er schon den Flur des Hochhauses entlang rennt, in dem sein Vater, nunmehr getrennt von ihm und der Mutter, lebt, bewegt er noch seine Arme Flügeln gleich, um die Kurven in dem engen Gang richtig zu nehmen. Wir spüren geradezu sinnlich, dass er sich in voller argloser Übereinstimmung mit der Welt befindet.
Der Vater, zunächst etwas unwillig über den überraschenden Besuch seines Sohns, findet sich schließlich mit der Situation ab und erzählt ihm die Geschichte des Ikarus, schenkt ihm dessen Bild und verspricht Mathias zu seinem Geburtstag einen Rundflug über Berlin.
Mit diesen Bildern beginnt „Ikarus“, die Geschichte des Jungen Mathias, der vergessen und nicht verstanden wird, dessen Vertrauen nicht nur vom Vater, sondern auch von vielen anderen Menschen um ihn herum nicht erwidert wird. Das Filmmuseum zeigt diesen Film in der Reihe „Klassiker des Monats“.
In „Ikarus“, nach der Erzählung „Neun“ von Klaus Schlesinger, benützt Heiner Carow ein reiches optisches Arsenal, das er sich bereits in „Die Russen kommen“ (1968), der nicht veröffentlicht werden durfte, und im direkt vorangegangenen „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) erarbeitet hatte. Gemeinsam mit seinem Kameramann Jürgen Brauer realisiert er eine entfesselte Kamera, um das Wesentliche rein optisch auszudrücken: Der beherrschende Traum des Jungen vom Fliegen verbindet sich mit seiner großen Sehnsucht danach, dass seine Eltern wieder zusammenkommen und beide bei ihm und mit ihm sein mögen. Das wird in immer neuen Bildern veranschaulicht. Welche Gefahr diesem Traum droht, erleben wir ganz sinnlich in dem mehrfach zitierten Bild des Tanzes des Jungen hoch oben in einem Baumwipfel, zu dem er glücklich schreit: „Ich fliege, ich fliege!“ und aus dem er mit dem entsetzten Ruf „Papa!“ abstürzt. Im Traum wird er vom Vater aufgefangen. Die Realität ist weniger sanft zu ihm.
Bei allem Reichtum der optischen Phantasie hat „Ikarus“ eine strenge und lakonische Form, in der sich die Träume und Visionen des sehnsuchtsvollen Kindes mit einer scharfen, klaren, vorurteilslosen Darstellung der sozialen Realität verbinden. Etwa wird die Mitleidlosigkeit im Umgang mit Kindern in einer großen Szene in der Schule, in der ein Kind, das eine Kleinigkeit gestohlen hat, verhört wird, herzzerreißend dargestellt. Egoismus und Gleichgültigkeit der Eltern, die alle Probleme mit den geringsten Reibungen zu ihren Gunsten schnell klären möchten und am liebsten durch das Kind überhaupt nicht gestört werden möchten, werden genau und beklemmend erfasst. Wenn der Vater beim Geburtstagskaffee noch nicht einmal merkt, dass er das Versprechen, das er Mathias gab, gebrochen hat und Mathias schweigend am Tisch sitzt, mit dem Rücken zu uns, dann spüren wir seine wachsende Verzweiflung und abgrundtiefe Verlorenheit geradezu physisch. Und wenn Mathias schließlich das Bild des Ikarus vom Dach in die Tiefe wirft, gewinnt seine Geschichte das Ausmaß einer Menschheitstragödie.
„Ikarus“, ganz und gar aus der Sicht des Kindes erzählt, verteidigt dessen Anspruch auf Liebe, Interesse und Respekt ohne Wenn und Aber mit künstlerischer Vehemenz. Deshalb fand der Film zu DDR-Zeiten im Volksbildungsministerium wenig Verständnis und Sympathie und wurde eher versteckt als gezeigt. Die Verhältnisse haben sich geändert, aber die Ansprüche der Kinder sind dieselben, und „Ikarus“ ist ein universeller Film, der diese heute noch mit derselben Leidenschaft vertritt.
Die Autorin Erika Richter ist Filmdramaturgin und Filmwissenschaftlerin
Das Filmmuseum zeigt den Film anlässlich des 80. Geburtstages von Heiner Carow am morgigen Donnerstag, 18 Uhr, und am Freitag, 19. September, 20 Uhr. Morgen um 20 Uhr liest die Schauspielerin Johanna-Julia Spitzer aus dem Szenarium „Paule Panke“ von Rolf Richter und Heiner Carow. Anschließend läuft die selten gezeigte Komödie „Jeder hat seine Geschichte“ von Heiner Carow
Erika Richter
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