
© Verlag Barbara Budrich
Kultur: Der unverstellte Blick
Am Montag wird in der Urania ein Buch vorgestellt, in dem sich Töchter an ihre Mütter erinnern
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Die Fotos tragen das bräunlich-blasse Sepia der Vergangenheit. Frauen mit zusammen geknotetem Haar, oft inmitten ihrer Kinder, schauen uns lächelnd entgegen. Männer sind rar auf diesen Bildern. In dem Buch „Der unverstellte Blick“ geht es um einen Dialog zwischen den Generationen: zwischen Müttern und ihren Töchtern. Oft ist es ein Dialog, der nie stattfand und nur in den Wünschen der Töchter existierte. Wände des Schweigens statt Sprechen. Ängste, Zweifel, Hoffnungen wurden oft nur mit sich allein im stillen Kämmerlein ausgetragen.
27 Töchter, inzwischen selbst 65 bis 80 Jahre alt, ergreifen das Wort, tauchen noch einmal ein in die Zeit ihrer Kindheit, erinnern sich an ihre Mütter, die viel Courage zeigen mussten, um an der heimischen „Front“ zu bestehen.
Am kommenden Montag wird dieses wichtige Zeitzeugnis, das den Untertitel „Unsere Mütter (aus)gezeichnet durch die Zeit 1938 bis 1958“ trägt, in der Urania vorgestellt. Mit dabei ist die Potsdamerin Ilse Vogelsänger, die an diesem Buch mit schrieb. Sie bekam erst nach dem Tod ihrer Mutter Elisabeth deren Lebenserinnerungen in die Hand, in denen sich die oft kränkelnde Frau inmitten großer Umbrüche und Katastrophen die eigenen Sorgen von der Seele schrieb. 1906 in einem kleinen Bördedorf geboren, haderte Elisabeth mit dem Los, das viele Frauen mit ihr teilten: Herd und Kinder statt beruflicher Karriere. „Nimm die Hacke in die Hand und arbeite, du heiratest doch mal einen Landwirt“, schmetterte der Vater ihren Wunsch ab, als sie eine weiterführende Schule besuchen wollte. Nur im Winter blieb ihr Zeit, Weißnähen, Buntnähen, Maschine schreiben zu lernen. Fähigkeiten, die Elisabeth später brauchen sollte. Denn nach einem kurzen Eheglück stand sie allein da mit ihren drei Kindern. Ihr Mann wurde wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP in ein sowjetisches Internierungslager gesteckt und kam von dort, ohne jemals verurteilt worden zu sein, nicht mehr zurück. Mutter Elisabeth fand Zuflucht beim Bruder auf einem Bauernhof, „doch die von ihr erwünschte Feld-, Hof- und Hausarbeit konnte sie nicht immer Wunsch gemäß erfüllen: wegen ihrer schwachen Gesundheit, aber auch wegen der Notwendigkeit eines Zuverdienstes durch Heimarbeit“, schrieb die Tochter. Mit Garn aus Zuckersäcken und Stoffen von alten Wehrmachtsuniformen nähte ihre Mutter bis in die Nacht hinein „herrliche Kleidungsstücke“. Und trotz der eigener Not half sie Flüchtlingen, die es noch schwerer hatten. Am Ärgsten ängstigte sie indes das Nichtwissen um das Schicksals ihres Mannes. „Für mich als kleines Mädchen war es schon oft bedrückend, wenn meine Mutter verzweifelte und in ihrer Verbitterung mir weniger liebevolle Wärme geben konnte, als ich ersehnte.“ Doch obwohl die Mutter nicht immer die gewünschte emotionale Nähe aufbrachte, kämpfte sie mit Bärenkräften um das Wohl ihrer Kinder. Als Tochter Ilse TBC bekam, tauschte die Mutter fast das ganze Silberbesteck gegen frische Milch zur Heilung. Auch beim lebensbedrohlich erkrankten Sohn saß sie nächtelang am Krankenbett.
Der „Der unverstellte Blick“ ist kein literarisches Werk. Das Buch lebt von den authentischen, sehr privaten Schilderungen der Autorinnen, die sich nach über 50 Jahren fragen, was ihre Mütter erlebt, ertragen, verschwiegen, bekämpft und wieder aufgebaut haben.
Nach einer Einführung der Herausgeberin Marlene Zinken werden die Autorinnen Uta Würfel und Ilse Vogelsänger in Potsdam ihre Beiträge lesen. Sie stehen für die Mütter, die durch den Krieg die alleinige Verantwortung für ihre Familien übernehmen mussten und dabei oft über sich selbst hinaus wuchsen.Heidi Jäger
Lesung am 17. November, 18 Uhr, Urania, Gutenbergstraße 71-72, Eintritt 4 €.
Heidi JägerD
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