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Kultur: Der Verlorene

Die Erzählung „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel im Gesprächskreis Literatur / Weitere Sitzungen November und Dezember

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Die Erzählung „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel im Gesprächskreis Literatur / Weitere Sitzungen November und Dezember Ist der junge Mann am Ende der Erzählung der lang gesuchte verlorene Sohn oder ist er es nicht? Über diese Frage wurde im „Gesprächskreis Literatur“ am heftigsten debattiert. Seit 1997 treffen sich regelmäßig Literaturinteressierte in der Zweigbibliothek „Pablo Neruda“, um gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Kirsten Hattinger über einzelne Bücher zu diskutieren. Der ost-westfälische Autor Hans-Ulrich Treichel, Jahrgang 1952 und Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig, erzählt in „Der Verlorene“ westdeutsche Nachkriegsgeschichte mit den Augen eines Jungen, dessen Familie von einem Trauma beherrscht ist. Während der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr kam der erstgeborene Sohn abhanden, ein nicht ungewöhnliches Schicksal dieser Zeit. Das deutsche Rote Kreuz führte mit seiner Aktion „Suchkind“ Familien, die in den Wirren der letzten Kriegstage auseinander gerissen wurden, wieder zusammen. Dass Treichel nicht eine tränenrührige Geschichte schrieb, sondern vielmehr durch eine lakonische Erzählweise die Atmosphäre der Adenauerzeit zwischen Prüderie und Wirtschaftswunder zeichnet, darüber waren sich die Teilnehmer des Seminars einig. Über die Auslegung der geschilderten Ereignisse gab es hingegen ein kreatives Streitgespräch, das von der Seminarleiterin, die diesen Kurs über die Volkshochschule Potsdam anbietet, gelenkt wurde. Kirsten Hattinger sieht ihre Aufgabe vor allem in der Moderation. Eine Interpretation der Texte gibt sie nicht vor, wohl aber macht sie auf verschiedene Aspekte aufmerksam, die beim oberflächlichem Lesen übersehen werden könnten. Die Vielschichtigkeit der von ihr vorgeschlagenen Bücher wird durch die Teilnehmer selbst erkundet, die jeweils ihre Lebens- und Leseerfahrung in den Gesprächskreis einbringen und sich nicht scheuen, widersprechende Meinungen zu artikulieren. In der ersten Sitzung des laufenden Seminars war es vor allem die politische Dimension des Buches, die durch die ironisch-distanzierte Erzählhaltung nicht sofort sichtbar wird und doch dem Text in raffinierter Art und Weise unterlegt ist. Wenn die Eltern und der Bruder des Verlorenen in absurder Weise ausgemessen werden, um über den Körperbau ein Gutachten bezüglich der möglichen Verwandtschaft zu einem Findelkind zu erstellen, dann erinnern diese Untersuchungen an die Rassewissenschaftler des deutschen Faschismus. Die Geisteshaltung des Arztes wird in einem einzigen Satz umrissen, in dem dieser die polnischen Gebiete als nur vorläufig verloren definiert. Indirekt thematisiert Treichel so die bedenkenlose Weiterbeschäftigung von Naziwissenschaftlern in der Bundesrepublik. Fasziniert zeigten sich die Lesekreisteilnehmer auch von dem Titel der Erzählung, lässt sich doch nach der Analyse des Buches noch viel mehr in dem einen Wort lesen. Es ist nicht nur der verlorene Sohn, sondern auch der verlorene Krieg, die verlorene Heimat, aber auch die Verlorenheit selbst, die jeden in der Familie charakterisiert, da das Trauma des Bruderverlustes nicht verarbeitet wird. Ob der verlorene Sohn am Ende des Buches gefunden wird – das lässt der Autor offen. Da sich der Leser aber gerne in die nicht vorhandene allwissende Erzählhaltung retten möchte, bleibt nur eins: noch mal und ganz genau lesen! In den kommenden Sitzungen wird über Peter Härtlings Romanbiographie: „Hoffmann oder die vielfältige Liebe“ (7.11.) und über Ulla Hahn: „Das verborgene Wort“ (12.12.) diskutiert. Helen Thein

Helen Thein

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