zum Hauptinhalt

Kultur: Die Abenteuer des Körpers Sara Shelton Mann

bei den Tanztagen

Stand:

Die Welt lebt von den Möglichkeiten, die jede und jeder hat. Davon, sein zu können, was man sich vorstellt, davon, sich immer wieder anders zu erfinden. Wer neu ansetzt, muss auch in der eigenen Vergangenheit neu ansetzen, und da ergibt sich die Frage, an welcher Stelle man damit beginnt und welches Land, welche Sprache man sich für das aussucht, was kommt.

Durch die Zeitungsseite, die wie eine überdimensionale Bettdecke auf dem Boden der Bühne in der Schinkelhalle liegt, geht eine Welle. Durch die Dramen und Skandale von gestern schlägt Wind, die Tänzer nehmen die vergangenen Ereignisse mit ihren Körpern auf, durchforsten sie nach Brauchbarem, verwandeln sie. Sie spüren dem Eigenen im Fremden nach, der Verortung des eigenen Körpers und der Körper ringsum, erkunden seine Möglichkeiten und die Grenzen, die ihm von Haut, Knochen und Muskel gesetzt sind. Wenn sie in eine Geschichte geraten, die sich mit einem oder mehreren der anderen Tänzer füllen lässt, probieren sie aus, wie weit sich miteinander gehen lässt, bevor der Wind der Zeit wieder alles davonweht und freimacht für Neues.

Fünf Frauen und drei Männer erkunden am Sonntagabend elektrisierend leicht und selbstironisch, wer man sein könnte, wäre man von Herkunft und kulturellem Hintergrund befreit und würde sich in einer Gruppe, einem Stamm, am Nullpunkt des Körpers wiederfinden. Eine gedankliche Spielerei, die einen Tanzabend lang Funken schlägt.

„Es gibt vielleicht einen indischen Jungen“, spricht Sara Shelton Mann durchs Mikro ein, „der mein paralleles Leben lebt.“ Sara Shelton Mann ist die Choreografin des Tanzstücks „Tribe/Zero Point“, das nur das Arbeitsergebnis eines dreiwöchigen Workshops sein soll, und doch schon so kraftvoll, komisch und bildstark daherkommt. Ein sprühender Einfallsreichtum verbindet mühelos die unterschiedlichen Hintergründe der Tänzer und Tänzerinenen. Drei der Tänzer sind als Ballroomtänzer ausgebildet, andere haben Laufbahnen als Show- oder Performancetänzer oder Erfahrungen im Contact-Tanz, sie kommen aus Polen, Italien, den USA und Deutschland.

Mit ihrer Lust am Spiel und ihrem tänzerischen Können machen sie aus Improvisationsübungen kleine Meisterwerke, egal, ob da eine vom überbordenden Zeitungsberg auf einem viel zu kleinen Stühlchen fast zu Boden gedrückt wird und versucht, sich darunter trotzdem zu artikulieren, oder ob eine andere Wasserspritzer zum Klingen bringt, ob drei sich gegenseitig beim Showtanz überbieten wollen, ob eine mit hängender Hose, aber ganz in Weiß und tapfer den Chaplin-Song „Smile“ auf den Lippen beim Versuch zu laufen ununterbrochen mit den Knien wegknickt oder ob Figuren getanzt werden, in denen ein Körper aus der Haltung des anderen hervorzugehen scheint. Aufregend bei all dem ist die durchweg androgyne Sicht auf Körper und das Gefühl, pausenlos etwas zu verpassen.

Sara Shelton Mann, die Tanz und Choreografie unter anderem an der Standford University unterrichtete und mit einem Guggenheim Fellowship ausgezeichnet wurde, war von der fabrik Potsdam eingeladen worden, um gemeinsam mit Tänzern verschiedener Nationalität zu arbeiten. Die Einladung ging auf die Anregung einiger Tänzerinnen aus der Berliner Performance-Szene zurück, die die besondere Herangehensweise von Shelton Mann interessierte. Die Amerikanerin hat sich mit Qigong und anderen Praktiken der Energieheilung beschäftigt und verbindet sie mit dem Tanz. Ihre Choreografien erarbeitet sie über die Wahrnehmung der Energie, die zwischen den Körpern der Tanzenden entsteht. Sie fragt nach ihrem Verhältnis zum Raum, nach energetischen Anziehungs-und Abstoßungskräften. Einzelne Übungen können auf der Frage basieren, ob die Tänzer bei sich selbst sind oder schon im Energiefeld des anderen. Beim Tanzen komme es darauf an, diese Energien bewusst zu nutzen, sagte Shelton Mann im anschließenden Publikumsgespräch. Es gehe nicht darum, einstudierte Bewegungsabläufe abzurufen, sondern pausenlos und schnelle Entscheidungen zu treffen. „Was sind meine Möglichkeiten? Wo liegt meine Macht? Was sind die Abenteuer, die mich produktiv werden lassen?“ Eines der Abenteuer dieses grandiosen Tanzabends mag die Erinnerung daran sein, dass diese Fragen nicht nur beim Tanz gelten. Und auf dem Weg nach Hause werden die Ernergieblitze auf der Bühne zu Wetterleuchten, das Gefühl entsteht, den eigenen Körper gut auszufüllen. „Steig aus dem Auto, leer deine Taschen aus, du hast es dir verdient zu laufen.“ Antje Strubel

Antje Strubel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })