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Kultur: Die Auferstehung einer Bibliothek

Walter Boehlichs Sammlung dem Moses Mendelssohn Zentrum geschenkt

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Es gibt Bibliotheken, die ein merkwürdiges Eigenleben entwickeln. Sie wuchern, füllen Räume aus, um sie schlussendlich zu beherrschen. Und es gibt Gelehrte, die sich eine solche Anmaßung ihrer Bücher gefallen lassen. Walter Boehlich gehörte zu ihnen, er hat Büchern gedient, hat sie übersetzt, lektoriert und kritisiert. Auf allen drei Feldern war er gleichzeitig geschätzt und gefürchtet.

Als 1956 Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erstmals auf Deutsch erschien, verriss Boehlich die Übersetzung. Daraufhin stellte ihn der verantwortliche Suhrkamp-Verlag als Lektor ein. Ein weitsichtiger Schachzug. Künftig übersetzte Boehlich selbst: aus dem Dänischen, Spanischen, Schwedischen, Französischen. Suhrkamp entwickelte sich zum wichtigsten Verlag für Gegenwartsliteratur und Boehlich zum intellektuellen Kopf des Verlages.

Dem Kind war kaum anzumerken, welch Büchernarr Boehlich einmal werden sollte. Aufgewachsen in Breslau, soll der 1921 Geborene ein mittelmäßiger Schüler gewesen sein, dem erst die Werke Theodor Storms, ein Geschenk zur Konfirmation, den Durst auf Literatur eingaben.

Seither jedoch hörte er nicht mehr auf, Bücher anzuhäufen. Bevor er Philologie studieren konnte, kamen Hitler und der Krieg. Boehlich meldete sich, getreu der deutsch-nationalen Erziehung im Elternhaus, freiwillig. Die Nationalsozialisten befanden jedoch, dass er nicht zur Nation gehörte. Wegen seiner jüdischen Mutter wurde er als „wehrunwürdig“ ausgemustert.

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches brachte Boehlich in der Reihe „Sammlung Insel“ Autoren aus dem 18. und 19. Jahrhundert heraus, die nicht zum Kanon der Klassiker gehörten, die aber auf eine vergessene demokratische, aufklärerische Tradition verwiesen. Der Band zum Berliner Antisemitismusstreit von 1880 gehörte zu den ersten der Reihe und provozierte 1965 eine Debatte über antisemitische Haltungen in der Gegenwart. An die 50 Bände erschienen in nur vier Jahren. Die Reihe wurde eingestellt, nachdem die wichtigsten Lektoren im Streit den Verlag verlassen hatten. Sie waren gescheitert mit dem Versuch, demokratische Strukturen am eigenen Arbeitsplatz aufzubauen. Das ging zu weit. Boehlich musste gehen und gründete mit anderen den „Verlag der Autoren“. 1973 erschien dort „1848. Dokumentation in neun Szenen“, der Rückblick auf eine Revolution in Deutschland, das einzige Buch, für das Boehlich als Autor verantwortlich zeichnete.

Ein Angestellter sollte er nie wieder werden. Stattdessen wurde er einer der wichtigsten linksliberalen Literaturkritiker. „Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende...“ schrieb er 1968 in einem viel beachteten Manifest. Voreilige Leser meinten, dass da jemand dem Tod der Literatur das Wort rede, und übersahen, dass es Boehlich vor allem um das Ethos des Literaturkritikers ging. Sein Furor war der eines Liebhabers, eines Literaturliebhabers. In den folgenden Jahren schrieb er u.a. für die „Zeit“, für den „Spiegel“, für „Konkret“. Und seit 1979 regelmäßig bissige Kolumnen in der „Titanic“.

Er gab auch weiterhin Bücher heraus, so die Jugendbriefe Sigmund Freuds, dessen Billets er an seinen Freund Eduard Silberstein in einem erfundenen Kunstspanisch durch philologisches Einfühlungsvermögen entschlüsselte. Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ wurde 1997 seine letzte große Übersetzung. Wenn er daraus öffentlich vorlas, stampfte er mitunter heftig mit dem Fuß auf. Immer dann, wenn er sich die Tränen verkneifen musste, weil die Worte ihn anrührten. Dabei war er keineswegs rührselig. Allzu große Menschennähe hielt er sich vom Leib, selbst seine besten Freunde hat er zeitlebens gesiezt. So ließ sich wohl besser streiten.

Seit 2001 war Walter Boehlich zu krank, um weiter mit seiner Bibliothek leben zu können. Seine Familie holte ihn zu sich, die Bücher drohten zu verwaisen. Als der Hausstand aufgelöst wurde, wurden sie in 300 Kartons verpackt und eingelagert. Am 6. April 2006 starb Boehlich. Die Bibliothek aber wird wieder auferstehen. Ende des vergangenen Jahres kamen die Kartons nach Potsdam. In den nächsten Jahren werden die Bestände vom Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ), das die Bibliothek als Schenkung übernahm, erschlossen. In diesem Zusammenhang wird eine Bibliographie all der verstreuten Texte erstellt, die Boehlich in so enger Partnerschaft mit seinen Büchern geschaffen hat.

Um den rund 10 000 Büchern einen angemessenen Platz zu sichern, kooperiert das MMZ mit der Stadt- und Landesbibliothek, die in den kommenden Jahren saniert wird. Ab 2011, wenn die Bücher wieder aufgestellt sind, kann sich dann jeder einen Einblick in die papierenen Hintergründe der intellektuellen Debatten in der alten Bundesrepublik verschaffen. Dass die Bücher erneut ihr Eigenleben aufnehmen, ist aber nicht anzunehmen. Ihre amorphe Fähigkeit hat die Bibliothek mit dem Tod ihres Begründers verloren.

Lene Zade

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