Kultur: „Die Brücke war eine Art Wurmloch“
Spät in der Nacht des 9. November schaltete er den Fernseher ein. Dann lief er zur Glienicker Brücke. Danach entstand „Die letzte Nacht“. Ein Interview mit Christian Heinze
Stand:
Herr Heinze, wie haben Sie „Die letzte Nacht“ am 9. November auf der Glienicker Brücke erlebt?
Wir lebten in diesen Novembertagen ja schon in einer gewissen Spannung und Euphorie. Am 4. November gab es diese große Demo in Potsdam. In der Babelsberger Friedrichskirche fanden regelmäßige Treffen mit dem Pfarrerehepaar Flade statt. Am Abend des 9. Novembers saßen wir mit Freunden bei uns zusammen und haben über die jüngsten Entwicklungen gesprochen. Den Fernseher hatten wir gar nicht angemacht. Als die Freunde dann gegen Mitternacht gegangen sind, haben wir den Apparat doch noch eingeschaltet.
Und dann hörten und sahen Sie, dass die Mauer geöffnet war.
Ja, ich bin dann gleich los zur Glienicker Brücke, die ja nur wenige Meter von unserem Haus entfernt liegt. Da kamen mir dann aber schon einige Leute entgegen, die sagten, dass dort die Grenze noch zu ist und keiner durchkommt. Ich bin aber trotzdem weiter und habe mir das ein wenig angeschaut. Daraus ist dann die Grafik „Die letzte Nacht“ entstanden.
Wie hat die Glienicker Brücke in dieser Nacht auf Sie gewirkt? Auf der Grafik „Die letzte Nacht“ ist sie ja eher als ein bedrohliches, abweisendes Gebilde zu erleben.
Nun, das Bedrohliche habe ich hier natürlich etwas überhöht. Aber es war Nacht und dann diese Lichtkegel über der Brücke. So sah das aus. Im Vordergrund die Betonklötze, die dort eingebracht wurden, nachdem in den 80er-Jahren mit einem Lkw die Flucht über die Brücke gelungen war. Aber ich kannte das ja. Wir sind aus unserem Haus getreten, die Menzelstraße entlang, dann haben wir die Grenze gesehen. Und die Glienicker Brücke war so etwas wie ein Wurmloch, da konnte man nie rüber. Auf der linken Seite waren die Grenzer der DDR und auf der rechten die russischen Soldaten. Und in diesem Häuschen in der Mitte war immer einer von den russischen Soldaten drin, der den Schlagbaum aufmachte, wenn da jemand kam.
Sie haben in den Wochen und Monaten nach dem 9. November immer wieder die Mauer künstlerisch verarbeitet.
Ich habe so dieses Thema für mich abgearbeitet. Das gehört ja zu Potsdam. Und da schon immer Potsdamer Landschaften mein Thema waren, hat sich hier für mich sozusagen eine neuen Landschaft, neue Strukturen eröffnet.
Ein treffendes Bild für diese sich öffnende neue Landschaft ist Ihre Grafik „Potsdamer Landschaft/Der erste Blick“. Ist das eine Szene, die sich so vor Ihrer Haustür abgespielt hat?
Ja, ein guter Freund und Galerist von der Ostsee hatte Freunde in Los Angeles. Und die meldeten sich nun bei ihm und forderten ihn auf, er solle sie in den USA besuchen kommen. Bevor er dann Anfang 90 geflogen ist, hat er noch eine Nacht bei uns verbracht. Er hatte damals schon eine Videokamera, ein regelrechter Koffer. Wir sind dann runter zur Mauer an der Schwanenallee, wo dieser Durchbruch war, und haben da ein paar Mauerstücke rausgeschlagen. Er hat das alles gefilmt. Zehn Mauerstückchen haben wir dann verpackt und ich habe dann noch Grafiken von der Glienicker Brücke dazugegeben. Das waren seine Gastgeschenke. Die in den USA waren da natürlich ganz aus dem Häuschen und dachten, wir würden jetzt schon die Mauer wegreißen.
Wie verschwand die Mauer hier vor Ihrer Haustür?
Los ging es mit dem Zaun. Der stand ja noch vor der Mauer. So ein Metallzaun, wo nichts durchkam. Der war ziemlich schnell weg. Da haben sich auch viele Leute was von geholt. Davon sieht man ja sogar noch heute Teile in den Gärten. Gelegentlich hörten wir auch abends Hammerschläge. Dann war wieder einer an der Mauer zugange und hat sich ausgetobt. Anfang der 90er-Jahre kamen dann die Lkws und die Mauer verschwand. Aber relativ lange blieb das noch so, vor der Mauer Sand und dahinter Dickicht. In der Zeit habe ich dann immer wieder Skizzen von der Mauer gemacht. So sind etwa 50 Grafiken entstanden. Aber das Thema lässt mich nicht los und beschäftigt mich auch heute noch. Man wird da ja irgendwann auch so eine Art künstlerischer Biograf.
Wie haben Sie diese neue Landschaft wahrgenommen?
Diese Lennésche Offenheit hat sich jetzt endlich klarer gezeigt. Von unserer Seite haben wir das ja gar nicht so wahrgenommen, aber wenn man von Wannsee Richtung Glienicker Brücke kam, dann sah man diesen langen Betonstreifen. Dieses Elend. Also von der Westberliner Seite muss das wirklich sehr unansehnlich gewesen sein.
Was hat für Sie persönlich der Mauerfall bedeutet?
Ich will jetzt nicht von Freiheit reden, denn ich habe mich ja vorher nicht unfrei gefühlt. Aber das war ein Schlussstrich unter einem kaputten Jahrhundert.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Christian Heinze wurde in Dresden geboren, wo er auch an der Hochschule für Bildende Künstler studierte. Seit 1966 lebt und arbeitet er als freiberuflicher Maler und Grafiker in Potsdam.
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