Kultur: Die Dialektik der Bilder
Die Ausstellung „1/1“ auf der Freundschaftsinsel bricht mit den Regeln des Kunstbetriebs – und lässt den Betrachter einfach sehen
Stand:
Leere löst schon mal Angst aus. Panik. Leute mit Agoraphobie wissen das, aber vermutlich auch fast alle anderen. Die Angst vor der inneren Leere, dem Gefühl, dass, wenn geliebte Menschen und Ablenkung fehlen, plötzlich nicht viel mehr bleibt als der Blick in den eigenen Abgrund. Ins Nichts. Auf den zweiten Blick ist es da drinnen dann meist gar nicht so leer – da findet sich immer was, und wenn alles drumherum fehlt, guckt man vielleicht ein bisschen genauer hin.
So in etwa funktioniert auch die aktuelle Ausstellung „1/1“ des Brandenburgischen Kunstvereins im Pavillon auf der Freundschaftsinsel. Obwohl es hier nicht leer im eigentlichen Sinn ist, es wurde nur reduziert. Vom 1. bis zum 19. Juli hängt, zwischen weißen Wänden und dem Blick in den Garten, hier ein einziges Bild. Allerdings: jeden Tag ein anderes. Mehr nicht – aber auch nicht weniger. Pressebilder gibt es nicht, zum Fotografieren soll keiner kommen, kurz: Es soll keine Bilder von den Bildern geben. Mensch und Kunst sollen sich unvermittelt begegnen. Wie in der Musik – bei der es Teil des Kicks ist, das Live-dabei-Sein – soll hier die Zeit eine Rolle spielen. Den richtigen Moment erwischen müssen für die Kunst, das ist das eine.
Kurator Gerrit Gohlke geht es aber noch um etwas anderes. „Eine erfolgreiche Ausstellung, kann man inzwischen sagen (...), findet aber nicht mehr am Ausstellungsort statt. Sie ereignet sich anderswo“, so schreibt er im Pressetext. Wo? – Na in sozialen Medien natürlich, überall dort, wo man Bilder von Bildern verschicken und teilen könne. Kurzer Kommentar dazu, fertig. „Über eine Ausstellung muss man möglichst schnell an möglichst vielen Orten der Welt reden können, das scheint uns das häufig implizit unterstellte Ziel kuratorischer Arbeit zu sein“, so Gohlke. Und tatsächlich könnte man es natürlich so sehen: Je mehr über ein Event geredet wird, desto wichtiger wird es wohl gewesen sein – zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung. Heißt das dann in letzter Konsequenz, dass, worüber nicht geredet, was nicht geteilt wird, auch quasi nicht existiert?
Eine Antwort will Gohlke darauf gar nicht geben, seine Ausstellung sei eher eine Belustigung – und ein „Panic Room“, ein Schutzraum also, ein Rückzugsort für die Bilder. Also jedenTag ein Bild, volle Konzentration, kein Gelaber. Am gestrigen Donnerstag etwa hing dort „Turn around“ von Michael Müller, eine fast zwei mal zwei Meter große Abstraktion.
Blassrote und schwarze Schlingen knäulen sich da, es könnten verwirrte Kabel sein oder Adern, die sich um ein pumpendes Herz ranken: Die roten voll mit frischem, die schwarzen voll mit verbrauchtem Blut. Dass beides passen könnte, passt wiederum gut zu Michael Müllers kolportierter Faszination für Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“.
Darin glaubt die Hauptfigur Ulrich, die Wurzel der modernen Krise im historisch gewachsenen Widerspruch von „Wissenschaft“ und „Seele“ zu erkennen. Gut, das Herz selbst – als angenommener Sitz der Seele – fehlt hier auf dem Bild, nur das, was es antreibt, ist geblieben. Sofern es eben nicht doch bloß Kabelsalat ist. Oder verschlingen sich hier, wie der Philosoph Jürgen Habermas es nannte, Mythos und Aufklärung? Was, wenn man Adornos Dialektik folgt, zur Selbstzerstörung der Aufklärung führen kann. Einziger Ausweg: die Selbstbesinnung – das Immer-noch-einmal-Hinsehen, Noch- einmal-Hinterfragen von allem.
Dafür ist hier, in dieser von Gohlke so fragend konzipierten Ausstellung, Zeit. Und Raum. Es gibt ja nichts, wohin man sonst sehen, wohin die Gedanken abschweifen könnten.
Und dann erkennt man, dass unter dem Weiß, vor dem es da wuselt, ein verworfenes Netzwerk liegt, ganz blass, wie die alten, von der Vernunft beendeten Mythen schimmern sie durch. Wenn man noch länger hinsieht, erkennt man, dass es gar nicht das Weiß war, das das erste Netz übertüncht hat. Sondern dass es erst ganz zum Schluss, wie zur Trennung der schwarzen von den roten Linien, aufgetragen wurde. Oder doch nicht? Die Fragen an dieses eine Bild hören nicht auf. Schade, dass es heute verschwunden sein wird. Und Platz für neue Fragen, an ein anderes Bild schafft.
Die Ausstellung „1/1“ ist noch bis zum 19. Juli im Pavillon auf der Freundschaftsinsel zu sehen
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