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Kultur: Die Einsamkeit des Literaturwanderers

6. Literaturnacht im Hans Otto Theater

Stand:

6. Literaturnacht im Hans Otto Theater Der Literaturbegriff stand auf dem Kopf. Im dunklen Zwischenbereich der 6. Literaturnacht erschien das Wort „Rutaretil“ als Lichtinstallation vor den Augen des Literaturenthusiasten, der sich bei seinem Gang von einem Leseort zum anderen mit der Richtigstellung beschäftigen konnte. Unter dem Motto „unterwegs“ hatte das Hans Otto Theater namhafte Autoren geladen, unter anderen Leander Haußmann, Birgit Vanderbeke und Lars Gustafsson. Die beiden Erstgenannten wurden mangels eigener Präsenz durch Schauspieler lebendig, aber Gustafsson war tatsächlich gekommen, und als er mit seiner gutturalen Stimme schwedisch akzentuiert eine Geschichte aus dem Jahr 1973 las, war das einer der Höhepunkte des Abends. Beim Umzug, erzählte dieser Grandseigneur der skandinavischen Literatur eingangs launisch, bei dem man ja immer alles andere mache als einpacken, habe er die Geschichte wiederentdeckt. So war er mit den Lesern unterwegs in eine vergangene Zeit und berichtete von den märchenhaften Abenteuern, die einer West-Berliner Malerin beim Bus- und U-Bahnfahren passieren. Dabei überzeugten weniger die drei wunderlichen Herren mit der Zauberkraft, als die Beschreibungen der spezifisch Berliner (Un-)Höflichkeit. Viele der Autoren nahmen das Motto „unterwegs“ wörtlich, so auch die neun Jugendlichen der Schreibwerkstatt des Theaters, die, allesamt mit Koffern bewaffnet, aus ihrem Gepäck manch wunderliche Fundstücke zogen. Wenn „Toleranz – 100 mal“, „ein mal ich selbst“ und „mehr als sechs Sonnenstrahlen“ das Ergebnis einer Reise nach innen sind, dann kann man damit zufrieden sein. Auch die Ausführungen von Ulrich Woelks „Einsamkeit des Astronomen“, der auf einer erzwungenen Tour zurück in seine Kindheit allerhand Einsichten findet und skeptisch über die „beharrlichen Ausdünstungen von Leben“ reflektiert, enttäuschten nicht. Lohnenswert sicher der „Akkordeonspieler“ der wortgenauen Marie-Luise Scherer, die mit geräucherter Kehle mitfühlend ironisch und exakt beobachtend die Abenteuer des bei unterschiedlichen Frauen einwohnenden Kolenko wiedergab. Aber je später der Abend, desto ungefährer wurde die Literatur, als löse sie sich im Dunkel der Nacht quasi selber auf. Effektheischend und selbstverständlich pointenreich der leider nur fremdironische Witz von Moritz Rinke, der sich über AIDA-Touristen und Wagnerianer so herzlich amüsierte, dass man zwar schadenfroh und in der Gewissheit, selbst weitaus weniger beschränkt zu sein als die anderen, mitlachen konnte, aber dann lieber die tastenden Anbandelungsversuche der Heldin von Elke Schmitters „leichten Verfehlungen“ auf die eigene Literaturliste setzte. Bei Jenny Erpenbecks perfekt vorgetragenem „Wörterbuch“ bröckelten, des konstruierten Wortklaubens und der angestrengten Vater-Tochter-Liebe müde, nach und nach die bisher Geduldigen von den Zuschauerrängen, vielleicht, um nebenan Barbara Bongartz in die „klirrend schöne Stadt“ Sankt Petersburg zu folgen. Antje Wagner bezauberte mehr mit nackten Schultern und lasziver Stimme, als durch die ziellose Spannung ihres Romans „Hinter dem Schlaf“ und Christine Anlauff wärmte noch einmal die Ossi-Wessi-wer-ist-bessi-Klischees auf. So war man nach Mitternacht mit den von Schauspielern wiedergegebenen herzlich trübsinnigen Klongeschichte des Skandaleurs Houellebecq und den dazu dargebotenen DJ-Weltuntergangsklängen ganz unter sich. Und froh, diese Literaturnacht überstanden zu haben. „Wenn das der Zustand der deutschen Literatur ist, muss man sich Sorgen machen“, lautete im Foyer das Fazit eines Insiders. Die trotz engagierter Organisation über weite Strecken fehlende Begeisterung bei dieser sechsten Literaturnacht kann einfach auch an der relativ geringen Zuschauerzahl, die möglicherweise einen profanen Grund hatte, gelegen haben: Wer kauft für 15 Euro vorgetragene Literatur am Meter, wenn er dafür auch ein gutes Buch bekommt?

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