Von Dirk Becker: Die Erfahrung Buch
Die Ausstellung „Kunst_Buch_Raum“ erzählt eine ganz eigenwillige und äußerst subjektive Geschichte
Stand:
Diese Ausstellung ist ein Buch, das mit einem Schaufenster-Einband lockt. Wer es betritt, dem wird eine Geschichte auf vielen Seiten erzählt. Eine sehr eigenwillige und bildreiche, eine äußerst farbige und eindeutig subjektive Geschichte des Buches, die sehr oft ohne Worte auskommt. „Kunst_Buch_Raum“ ist eine Ausstellung, die für kurze Zeit wieder Bücher an einen Ort zurückgebracht hat, der lange Zeit von Leere geprägt war.
Stefan Pietryga hat viel von dieser Leere gelassen, die in den vergangenen Monaten in den Räumen der ehemaligen Alexander von Humboldt-Buchhandlung im Bibliotheksgebäude am Platz der Einheit geherrscht hat. Er hat nur den alten Teppich herausgerissen und ein paar Vitrinen in das Erd- und Obergeschoss gestellt. Ansonsten wirken die Räume so, als wären sie erst gestern von der Belegschaft mit den hunderten Büchern verlassen worden. Auf den Wandregalen stehen noch immer die Fachzuweisungen in Druckbuchstaben: „Geschichte“, „Naturkunde“, „Biologie“, „Ökonomie“, „Chemie“, „Lyrik“. Nur die rote, dominierende Farbe ist neu. Die Hinterlassenschaft eines Möbelverkäufers, der die Räume nach dem Ende der Alexander von Humboldt-Buchhandlung im August 2006 für einige Monate nutzte.
Seit 2003 organisiert Stefan Pietryga einmal jährlich eine Ausstellung in Potsdam, in der er zeitgenössische Tendenzen in der Kunst aufzeigen will. Waren diese Ausstellungen bisher immer im Kunsthaus zu sehen, suchte der Bildhauer und Hochschullehrer Pietryga seit zwei Jahren nach neuen Räumen. Als er im vergangenen Jahr mit dem Fahrrad an den leeren Räumen der ehemaligen Buchhandlung vorbeifuhr, erkannte er sofort das Potenzial für eine Ausstellung. Von der ersten Idee, hier Malerei zu zeigen, ließ Pietryga schnell wieder ab. Die Architeketur der Räume schien ihm dafür nur begrenzt geeignet. Dann entschloss er sich, genau das zu zeigen, wofür diese Räume ursprünglich gedacht waren: Bücher.
Für „Kunst_Buch_Raum“ hat Pietryga innerhalb von nur fünf Wochen etwa 250 Objekte von über 20 Künstler organisiert. Denn erst vor fünf Wochen erhielt er die Genehmigung der Stadt, die Räume für die Ausstellung zu nutzen. Was Pietryga in dieser kurzen Zeit aus seinem breiten Freundes- und Künstlerkreis zusammengetragen hat, kann nur erstaunen.
Schon in den Schaufenstern liegen mittels Kunst verfremdete Bücher, weckt Christoph Rusts „buchstrahlen“ die Neugier. Ein perfekter Schaufenster-Einband, der einen förmlich dazu drängt, sich im Inneren dem Inhalt hinzugeben.
Hier empfängt einen zuerst die weite und hohe Architektur dieser Räume und, wer hier früher seine Bücher kaufte, auch die Erinnerung. Gleich rechts dann, neben dem Eingang, ein Buch, das Berühren werden will.
„O.T. (Steinbuch)“ hat das Bildhauerehepaar Kubach-Wilmsen den behandelten norwegischen Granit bezeichnet. Ein Brocken von einem Buch. Glatt die Oberfläche, ein strahlender „Einband“, rauh und scharkantig der „Seitenschnitt“. Das Buch als Denkmal, aus Stein geschlagen oder versteinert, ein Thema, an dem sich Anna-Maria und Wolfgang Kubach-Wilmsen seit Jahren mit ihren Steinbüchern schon abarbeiten.
Gleich daneben „Das Buch der Berührungsängste“, ein derber Scherz von Timm Ulrichs. Rostender Stahl, aufgeschlagen wie ein Buch, auf dessen Seiten in Blindenschrift das Bibelzitat „Noli me tangere“ steht. Zwei Kabel führen zu einem Stromaggregat für einen Weidenzaun. Doch Stefan Pietryga beruhigt. In der Ausstellung „Kunst_Buch_Raum“ steht Ulrichs Installation nicht unter Strom, bleibt ungestraft, wer seine Finger nicht davon lassen kann.
So geht es dann weiter durch diese erstaunliche und zum Staunen bringende Ausstellung. Birgit Berg-Blocks hintergründiges „Linsengericht“, Sabrina Hohmanns so simples und faszinierendes „Bibelgenom“, Peter Halleys streng geometrische und farbensatte „Herz“-Bilder.
Das Buch tritt einem in vielfältigster Form gegenüber. Zerrissen, entstellt oder geschreddert. Von Sinn und Zweck befreit, weil alle Seiten mit weißer Farbe übermalt wurden. Wie aufgequollen wirkt hier das Buch, wird das Berühren dieses entstellten Papiers zu einer neuen Erfahrung. Daneben edelste Buch- und Druckkunst unter Glas, von Helge Leiberg mit schwungvollen Bildern kommentierte Texte von Arno Schmidt oder Sonette von Shakespeare. Und hinter dem Tresen, an dem früher bestellte Bücher abgeholt wurden, ist auf einer Leinwand der Film über den Künstler Lutz Fritsch zu sehen, der mit Wissenschaftlern des Potsdamer Alfred-Wegener-Insituts mehrmals in die Antarktis gereist ist. Dort, inmitten dieser menschenleeren Einöde, hat er eine „Bibliothek im Eis“ geschaffen. Ein grüner Container, darin 1000 Bücher. Ein „Sehnsuchtsort im Eis“, wie es heißt.
Man kann das natürlich für Unsinn halten, verständnislos den Kopf schütteln über eine originalgetreue Kopie eines „Mac Bock“ aus Pappe. Doch dieses Spiel mit dem Buch, dieses Entfremden und Entstellen, dieses Überhöhen und Bereichern bricht alte Sehgewohnheiten auf und lässt einen erfahren, fühlen und sehen, was Buch alles noch sein kann.
Die Ausstellung „Kunst_Buch_Raum“ in den Räumen der ehemaligen Alexander von Humboldt-Buchhandlung, Am Kanal 47, ist noch bis zum 10. Oktober, jeweils mittwochs bis sonntags, 12-18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei
Dirk Becker
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