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Kultur: Die Eroberung der Welt

Erfolgsautor Daniel Kehlmann begeisterte das Publikum bei seiner Lesung im Waschhaus

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Es werde von Tag zu Tag kniffliger, den Autor Daniel Kehlmann zu beschreiben, weil dieser von Tag zu Tag berühmter werde. So ein Mitarbeiter des Rowohlt Verlages am Freitagabend im Waschhaus. Fast überall habe man in den vergangenen zwei Monaten lesen können, dass dem 31-jährigen, in Wien lebenden Schriftsteller mit seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ ein absolut herausragendes Buch gelungen sei, das sich bereits eine halbe Million mal verkauft hat. Allerorten würden die abenteuerlichen Geschichten des genialen Mathematikers Carl Gauß und des Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt gut gelaunte Leser hinterlassen. Deshalb werde Kehlmann in diesem Jahr auch den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhalten. Kehlmanns 300-seitiges Werk sei jedoch nicht nur unbeschreiblich komisch, sondern auch intelligent, von seltener Phantasie, Kraft und Brillanz, schwärmte der Rowohlt-Mitarbeiter. Neben ihm saß lächelnd Kehlmann und musste, angesichts des nicht enden wollenden Lobes, kurz schlucken.

Auch die Potsdamer hatten über ihn offensichtlich viel Gutes gelesen und gehört, denn der Ansturm auf die Karten für die Lesung war enorm. Nachdem auch der allerletzte Stehplatz vergeben war, erklärte Kehlmann sich damit einverstanden, dass noch 30 Zuhörer neben und hinter ihm auf der Bühne Platz nehmen durften. Trotzdem mussten etwa 60 Wartende weggeschickt werden.

Würde man Kehlmann unbekannterweise auf der Straße treffen, man würde ihm sofort abnehmen, dass er Schriftsteller ist. Mit seinem gepflegten dunkelblonden Herrenschnitt, dem ebenmäßigen, hellen Gesicht und den vollen roten Lippen, erinnert er an die Dichter der Romantik, gebildet und überaus höflich, mit einer leicht femininen Note.

Wenn Kehlmann vorzulesen beginnt, vergisst man die Zeit. Seine Sprache ist so unmittelbar und lebendig, dass ganze Bilderwelten im Kopf des Zuhörers entstehen. So beschreibt er das schwierige Verhältnis der Humboldt-Brüder an einer Szene, in der Wilhelm, der ältere, seinem Bruder Alexander versichert, dass die Eisdecke des Sees dick gefroren sei und ihn ganz bestimmt tragen werde. Alexander verlässt sich auf des Bruders Wort, schlittert auf die Mitte des Sees – und bricht ein. Diese Sekunden unter Wasser, in denen Alexander um sein Leben kämpft, schilderte Kehlmann mit hoher Spannung. Wohl keiner der Anwesenden wähnte sich in diesen Minuten im Waschhaus. Alle waren am See. Alexander überlebt, aber nur aus eigener Kraft: Sein Bruder reichte ihm erst am Ufer wieder die Hand.

Das komische Element des Buches kommt dann in dem Kapitel über Gauß“ Kindheit zum Tragen. Der Lehrer hatte den Schülern aufgetragen, alle Zahlen von eins bis 100 zu addieren, eine Aufgabe, die sicher Stunden in Anspruch nehmen würde, wie er glaubte. Doch der achtjährige Gauß stand nach nur drei Minuten mit seiner Schiefertafel vor dem Lehrerpult. 5050 stand auf ihr geschrieben – das richtige Ergebnis. Die unermessliche Verblüffung des Lehrers und die Unsicherheit des Schülers, der sich seiner Genialität zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Entferntesten bewusst war, wurden von Kehlmann zur großen Erheiterung des Publikums hinreißend rezitiert.

„Pointen sind wirklich etwas Unberechenbares“, meinte Kehlmann dann im Gespräch nach der Lesung. „An den Stellen, die ich selbst beim Schreiben für die allerlustigsten gehalten habe, da lacht nie jemand. Dafür kann sich das Publikum an anderen Stellen kaum halten, wo ich gar nicht beabsichtigt hatte, komisch zu sein.“ Es sei auch immer hoch interessant zu beobachten, so Kehlmann, wie unterschiedlich die handelnden Charaktere von den Zuhörern wahrgenommen würden, je nachdem, welche Passagen er vorlese. Aus den Reaktionen des Publikums könne er viel lernen.

Wie es denn mit den Reaktionen von Seiten der Gauß- und Humboldtexperten stünde? „Mit den Gauß-Fachleuten habe ich nur gute Erfahrungen gemacht“, sagte Kehlmann. Man habe dort zwar auch kontrovers diskutiert, aber insgesamt seien die Reaktionen positiv ausgefallen. „Einige Humboldt-Kenner waren sehr wütend darüber, dass ich Alexander teilweise als fanatischen, humorlosen Wissenschaftler dargestellt habe“, räumte er dann aber ein. Diese Art von Roman, sagte Kehlmann nach kurzem Überlegen, hätte jedoch leicht an zu viel Vorsicht scheitern können. „Darum habe ich mich bewusst zur Respektlosigkeit entschlossen.“ An allen Stellen, wo er übertrieben habe, könne er dies jedoch künstlerisch rechtfertigen.

Die Zuhörer im Waschhaus nahmen jedenfalls keinerlei Anstoß an erfundenen oder übertriebenen Details. Wie allerorten, hinterließ Kehlmann auch in Potsdam bestens gelaunte Zuhörer.

Juliane Schoenherr

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