Kultur: Die goldene europäische Jugend
Señor Serrano aus Barcelona mit „Mil Tristes Tigres“ über eine verspielte Welt
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Verspielt ist die ewige europäische Jugend, das zeigte die Aufführung am Freitag auf den Tanztagen in der fabrik. Alle im Ensemble der Gruppe Señor Serrano aus Barcelona sind um die dreißig. Doch um richtig erwachsen zu werden, dazu ist der starke Spieltrieb noch lange nicht am wirklichen Leben abgewetzt worden. Altes Spielzeug, wie die große Plüschkuh auf der Kirchenbank, und besonders die neuen Computer- und Videospielereien haben es dem Regisseur Alex Serrano Tarragó angetan.
Tiere geben dem Stück auch seinen Namen. Der Tiger – ein König in Freiheit, doch welch trauriges Geschöpf im Zoo. Sind wir Menschen nicht diese „traurigen Tiger“, tausendfach, obwohl wir als Krone der Schöpfung gestartet sind, fragte sich der Katalane Tarragó, und assoziierte mit seiner Gruppe über die Schrecken dieser Welt. Der ewige Berufsjugendliche hat Ängste und fühlt sich schuldig. Bei Señor Serrano fließen anscheinend Geborgenheitsverlust und Moralfragen ineinander. Der Monolog beherrscht die Bühne. Susana zählt lange die wichtigen und unwichtigen Gründe auf, warum sie ein schlechtes Gewissen plagt, und Jordi beschreibt breit, wann er sich erst sicher fühlt in seinem Haus: Wenn es von dicken Schlössern verrammelt ist.
„Tausend traurige Tiger“ ist eine Performance aus Elementen des Sprechtheaters und Multimedia-Anwendungen, in der der Tanz an sich letztrangig bedient wird. Nur eine der vier Figuren, Esther Forment, hat auch Tanz studiert. Sie spielt eine daueraggressive Kickboxerin, die – auch wenn sie liebevoll sein will – stets ihren Gegenüber vermöbelt. Die Katalanen präsentierten eine verrückte und äußerst verspielte Welt. Schon vor dem Einlass ging das los. Ein mit Zeitungsseiten völlig verhülltes Wesen tappte blind durch die Zuschauertraube, redete Spanisch wie ein Wasserfall und zog einer eleganten Dame ganz frech den Schuh aus. „Schuldig“ stand auf einem Schild auf seiner Brust.
Auch die Bühne gleicht einem Spielfeld, auf dem ein „Spielführer“ die Anweisungen gibt. Die ganze rechte Seite wird von einem langen Regietisch eingenommen. Hier sitzen Alex Serrano selbst, die Lichtmischerin und der Tonmann an ihren Computern. Sie steuern das Geschehen und greifen ein. Bestimmen, was die Videokameras aufnehmen sollen oder wischen Susanna das Kunstblut aus dem Gesicht.
Die ersten Szenen sind viel versprechend. Esther Forment steht mit dem Rücken zum Publikum und schwingt ihre Arme im Kreis. Das wird von einer Kamera aufgezeichnet und auf den schwarzen Vorhang an der Rückseite projiziert. Doch mit einer geschickten Verzögerung. Wenn die Tänzerin besonders schnell dreht, ist sie vor ihrer technischen Doppelung fertig. Bild und Reproduktion des Individuums haben sich getrennt. Es geht kraftvoll weiter: Der nächste Darsteller nutzt die Technik, um sich zu filmen, wie er fortläuft. Dann wirft er einen Dartpfeil auf den Vorhang, seinem Filmbild so zu sagen in den Rücken. Immer wieder die gleiche Abfolge. Eine Sinnschleife der vermeintlichen Selbstverletzung. Alles inszeniert. Die Projektion des Kopfes von Susana in Nahaufnahme scheint durch den Schlitz des Vorhanges zunächst Plüschtiere zu spucken, schließlich sogar größere Gegenstände wie Matratzen und ein Fahrrad. Herrlich einfach, herrlich sprechend. Auch wenn diese Bilder poetisch und kraftvoll sind, bleibt das Stück leider nicht durchgehend so dicht. Immer wieder die Monologe, die in der eilfertig für den ersten Auftritt außerhalb Spaniens ins Englische übersetzten Fassung wohl viel an Sprachmelodie eingebüßt haben. Zwischendrin eine synchrone, tänzerisch aufwändige Einlage, bei der alle Protagonisten eine Art Karateübung durchführen. Die Selbstaufnahmen, deren Prinzip der ständigen Verschleifung von vorgespielter Realität bald verstanden ist, nehmen zum Ende hin ab. Bilder der Explosion der Raumfähre Challenger erhöhen den Betroffenheitsfaktor.
„Mil Tristes Tigres“ ist geeignet, um sich ein Bild der europäischen Jeunesse Dorée zu machen. Sie liebt und beherrscht technische Spielzeuge, findet Gewalt und Einsamkeit schlimm und will viel dagegen tun. Mitunter, das war aus der Fahrigkeit des Stückaufbaus zu schließen, findet diese „goldene Jugend“ – Turnschuhe, T-Shirt und Jeans bis zur Rente – noch nicht ganz das richtige Mittel.
Matthias Hassenpflug
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