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Von Dirk Becker: Die große Ausschweifung

Drei Pianisten, ein Abend, ein Thema: Grenzenloses Spiel im Jazz im Nikolaisaal

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Distanz duldete Jasper van''t Hof nicht. Der große Saal? Kein Problem für ihn. Auch wenn der Steinway-Flügel und die wechselnden Solisten an diesem Abend immer etwas verloren wirkten auf der ansonsten leeren Bühne im Nikolaisaal. Doch für Jasper van’t Hof gab es nur das Ganz-nah-dran-sein. Schloss man die Augen, während der 61-Jährige gelegentlich wie ein Besessener, wie ein vor musikalischen Ideen schier Zerberstender die Tasten traktierte, war man mittendrin in seiner Musik, seinen Improvisationen und wilden Gedankensprüngen. Dann war da dieses Gefühl, wenn das freie Assoziieren eines Solisten, dieses oftmals abstrakte Improvisieren, zu etwas eigenem wird, wenn die Droge Jazz wirkt, sich tief in das Herz bohrt und einen plötzlich an der Kehle packt.

Mit „Die unerhörte Freiheit“ war die Lange Nacht des Jazzpianos am Samstag im Nikolaisaal überschreiben. Ein weiterer Höhepunkt in der Reihe „Black & White. Meisterpianisten zwischen Klassik, Jazz und Improvisation“. Drei Pianisten, ein Thema: Grenzenloses Spiel. Sich an das Klavier setzen und einfach geschehen lassen. Wenn dann alles stimmt, der Kopf frei ist, die Hände beginnen, ein erstaunliches Eigenleben zu führen und die Luft im Saal sich mit musikalischen Bildern füllt, die das Publikum erstaunen, berühren, überwältigen, aber auch verstören und quälen, dann braucht es nicht mehr. Dann ist man dankbarer Willenloser auf einer Reise durch ein lange Nacht.

Und wenn man nach vier Stunden sich auf den Heimweg macht und das Gefühl mitnimmt, dass die „Lange Nacht des Jazzpianos“ viel zu kurz war, kann es kein besseres Kompliment für die Musiker und den Veranstalter geben.

Anfangs war da noch gehörige Skepsis. Kann diese Intimität, die von einem Solisten am Klavier ausgeht, sich überhaupt im großen Saal entfalten? Viele Jazzkonzerte hatte man in den vergangenen Jahren im Foyer erlebt und diese besondere Atmosphäre schätzen gelernt. Da war diese Nähe, die die Droge Jazz in Reinkultur braucht, um entsprechend wirken zu können. Wanja Belaga, der die lange Nacht des Jazzpianos eröffnete, tat dann wenig, um die Zweifel am Saal zu beseitigen.

Mit Belaga hatte der Jüngste an diesem Abend den Vortritt. Und bei diesem Musiker war es wichtig, sich vor seinem Auftritt im Programmheft genau über seine Biografie zu informieren. Belaga, in Moskau geboren, kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland. Schon früh galt er als hoffnungsvolles Klavier- und Maltalent, gab im Alter von 15 Jahren nach einem dreifachen Handbruch das Klavierspiel auf. Belaga probierte viel, war Model, Fotograf, Klosternovize und war eine Größe in der Münchener Clubszene. Doch als er sich vor drei Jahren wieder, nach angeblich über achtzehnjähriger Abstinenz, an ein Klavier setzte und sich über zwei Stunden in Improvisationen verlor, war das wie ein Wiederkehr.

Belagas Spiel, in das auch viel klassische Elemente einfließen, ist so wild und so sprunghaft wie seine Biografie. Verstörende Klangfragmente, die er aus dem Steinway holte. Überladendes Melodiengewirr, das den Zuhörer bewusst vor den Kopf stieß, sich störrisch und unbequem gab. Kaum Pausen gönnte er seinen Improvisationen, ließ die Finger toben. Doch die Feinheiten in seinem Spiel blieben auf der Strecke. Sein Anschlag blieb zu oft unakzentuiert, nahm der Musik die Klarheit und ließ sie verschwimmen, so dass immer eine gewisse Distanz blieb. Die Befürchtungen, dass dies eher ein Problem des Instrumentes und nicht des Pianisten war, ließen Jasper van''t Hoft und Joachim Kühn ganz schnell verschwinden. Die Auftritte der beiden Altmeister zeigten deutlich, dass van’t Hoft und Kühn in einer ganz anderen Liga spielen.

Der 65-jährige Kühn, mittlerweile eine Legende auf dem Jazzpiano, schuf zwei musikalische Monumentalgemälde, die von stiller Schönheit bis zur aufbrausenden Wucht alle Facetten aufzeigten. Schmeichelndes wechselte mit verstörendem Spiel, gelassenen Momenten folgte ein treibender Rhythmus, aus dem flirrende Melodienkaskaden sprudelten. Dann van''t Hoft, ein melodieverliebter Lyriker, der einen mit seinem Spiel packte und schüttelte, bis man keine Gegenwehr mehr zeigte und einfach nur noch genoss.

Bleibender Höhepunkt des Abends: Kühns Interpretation von Bachs bekannter Ciaccona für Violine solo. Manch Bachpuristen werden bei Kühns Herangehensweise die Haare zu Berge stehen. Denn Kühn nutzt den Notentext nur als Gerüst, versteht ihn nicht als Dogma. Nicht Interpretation des Geschriebenen, sondern des Dazwischen, des Möglichen. Wie oft erlebt man Musiker, die sich an Bachs Noten klammern und mit großem Pathos an ihren Interpretationen kläglich scheitern. Ihnen möchte man zurufen: Hört Kühns Ciacona! Und dann schweigt!

Dirk Becker

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