Kultur: Die heilige Jungfrau packt aus Lesung aus „Marias Testament“ im HOT
Potsdam - Sie sind stumme Zeugen. Diese Menschen, Figuren der Geschichte oder der Literatur, die jeder kennt und doch keiner richtig.
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Potsdam - Sie sind stumme Zeugen. Diese Menschen, Figuren der Geschichte oder der Literatur, die jeder kennt und doch keiner richtig. Die lediglich die Entourage bilden für die Helden, die Macher, die zu Höherem Berufenen. Maria, Jungfrau, Mutter Gottes und als solche auch 2000 Jahre nach ihrer irdischen Existenz die tröstende Schulter für viele Katholiken, ist so eine. Denn wahrgenommen wird sie eigentlich immer nur als Erfüllungsgehilfin im göttlichen Plan, sie wurde unbefleckt schwanger und blieb – so will es die Bibel – auch nach der Geburt ihres einzigen Sohnes ihr Leben lang Jungfrau. Sehr viel Mitsprache hatte sie bei dem ganzen Unterfangen, von manchen auch Erlösung genannt, nicht.
Bis der irische Schriftsteller Colm Tóibín kam und einen kurzen, aber feinen Roman schrieb, „Marias Testament“, der den bekannten Ablauf der Dinge ganz anders, weil nämlich aus Marias Sicht, erzählt. Drei Schauspielerinnen des Hans Otto Theaters, Rita Feldmeier, Marianna Linden und Andrea Thelemann, lesen – unter der Leitung von Intendant Tobias Wellemeyer – an diesem Sonntag daraus, die Matinee ist der Beginn einer Reihe von Lesungen und Veranstaltungen, mit der, so Sprecherin Stefanie Eue, das Potsdamer Stadttheater ein Zeichen setzen will für ein weltoffenes Land, für eine demokratische Gesellschaft, die sich gründet auf Toleranz, Solidarität und Freiheit.
Was aber hat Toleranz mit der heiligen Jungfrau zu tun? Vielleicht, weil sich die Testament-Schreiber nie in ihre Lage versetzt haben, weil ihr weiteres Schicksal nach dem Tod ihres Sohnes keinen interessierte, sind auch die Parallelen verborgen geblieben, die zwischen ihrem Leben zur heutigen Zeit gezogen werden können. Man muss sich nur einmal vorstellen: Marias Sohn starb am Kreuz, schon lange zuvor hatte er sich von ihr entfremdet. Seine leidenschaftlichen jugendlichen Debatten mit Gleichgesinnten hatten sich in eine radikale Weltverbesserungstheologie verwandelt, im Kampf gegen das Alte, das Falsche, die Fremdherrschaft, die Ungerechtigkeit. Er wurde zum Märtyrer der Bewegung. Wie hat sie all das bewertet, mitgemacht, ertragen?
Hier steigt Colm Tóibín ein, er schickt zwei Anhänger ihres Sohnes zu ihr nach Ephesus, wo sie inzwischen lebt. Sie ist inzwischen alt, doch bevor sie stirbt, soll sie Zeugnis ablegen. Die beiden Jünger stellen ihr immer wieder dieselben Fragen, wollen von ihr Antworten von ihr. Solche, die sie gebrauchen können im Kampf, den die Gründung einer neuen Religion eben auch bedeutet. Doch Marias Erinnerungen unterscheiden sich fundamental von dem, was die Welt später erfahren wird.
In dieser, in Marias Leidensgeschichte, in die sich Colm Tóibín hineingedacht hat, werden sich deshalb wohl auch nicht nur Mütter wiedererkennen können. Nicht nur Frauen, die in den Freunden ihrer Kinder nichts anderes erkennen können als Nichtsnutze, Hysteriker, Sektierer. Denn die Gefahr, dass ein geliebter Mensch sich hoffnungslos verrennt in eine Idee, die man selbst für gefährlich oder einfach dumm hält, die besteht ja immer. Ariane Lemme
Aus „Marias Testament“ gelesen wird am Sonntag, dem 8. Februar, um 11 Uhr im Glasfoyer des Hans Otto Theaters, Schiffbauergasse. Der Eintritt ist frei.
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