Kultur: Die Hölle im eigenen Kopf
Das Figurentheater Wilde und Vogel seziert in „Toccata“ Robert Schumanns Psyche
Stand:
Erst zum Schluss, nach knapp einer Stunde, hebt sich der Vorhang ganz und gibt den Blick frei auf die gesamte Bühne. Und die Leere in ihrem Ganzen wird sichtbar. Ein schwarzes Loch, der Abgrund Seele, in dem nur schemenhaften und totenbleich ein paar Dämonen hängen. Den schlimmsten Horror schafft der eigene Kopf. Denn der eigenen Phantasie, den eigenen Wahnvorstellungen können wir nicht fliehen, nicht einmal im Schlaf.
Mit „Toccata“ gab das Leipziger „Figurentheater Wilde und Vogel“ am Wochenende sein zweites Gastspiel im Potsdamer T-Werk. Nach Hamlet stand der Komponist Robert Schumann auf dem Programm. Und wieder einmal erweisen sich Charlotte Wilde und Michael Vogel als feinfühlige und gleichzeitig gnadenlose Sezierer der menschlichen Psyche. Schumann, der 1840 Clara, die Tochter seines Lehrers Friedrich Wieck gegen dessen Willen heiratete, litt schon früh an Depressionen.
Nachdem er sich 1854 in den Rhein stürzte und gerettet wurde, verbrachte er die restlichen zwei Jahre seines Lebens in einer Heilanstalt. Über Tagebuchaufzeichnungen Schumanns und seiner Frau Clara, Auszügen aus seiner Krankenakte und frei erfundenen Gesprächen begeben sich Wilde und Vogel tief in die zerrissene Seele des romantischen Komponisten. Und wie in einer Toccata, ein freies, fast improvisatorisch gestaltetes, sich immer mehr steigerndes Musikstück zwischen breit tönenden Akkorden und ausgelassenen Tonfolgen, ziehen sie die Zuschauer immer tiefer in die klaustrophobische Wahnwelt Schumanns.
Ein schlichter Tisch und Stuhl stehen in einem schmalen Spalt zwischen schwarzen, fast durchsichtigen Vorhängen auf der Bühne. Nur wenig Licht, hier dominiert das Dunkel. Unter dem Tisch sitzt Michael Vogel und zitiert Schumann, der sich „tot fantasieren“ könnte. Hinter einem der Vorhänge ist Charlotte Wilde an der Hammondorgel nur zu erahnen, wo sie spartanisch, mit sich überlagernden Tonschichten die fortschreitende „Melancholie“ des Komponisten begleitet.
Am Anfang spricht Schumann noch von der Musik, die er komponieren will und die wie ein Schmetterling sein muss, träumt von einer glücklichen Zukunft mit Clara. Doch in dieser erträumten Schönheit lebt schon der Verfall, grinst der Wahnsinn und steigen die ersten Dämonen auf. Vogel, der Schumann oft wie einen staunenden, naiven Jungen spielt, ohne ihn dabei vorzuführen, zaubert immer mehr Dämonen auf die Bühne. Garstige Biester, mal nur fingergroß, dann riesenhaft, die scheinbar einem der zahlreichen Gemälde von Hieronymus Bosch entstiegen sind. Nur das ihnen sämtliche Farbe fehlt. Knochenbleich und schweigend geistern sie durch Schumanns Phantasie und tragen oft genug sein Gesicht wie eine Totenmaske. Sie umschmeicheln und verhöhnen Schumann und machen seine Liebe zu Clara zu etwas Unerreichbarem, eine Totgeburt der Phantasie.
Gnadenlos ziehen Wilde und Vogel in „Toccata“ die Zuschauer in diese persönliche Hölle. Und je tiefer es hinab geht, umso klarer wird, dass es hier keine Fluchtmöglichkeiten gibt. Denn der Wahnsinn im eigenen Kopf dreht sich immer nur im Kreis. Dirk Becker
Dirk Becker
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: