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Kultur: Die Insel als Traumland

Thomas Hettche liest in der Villa Quandt

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Es kommt nicht oft vor, dass der Leser aus Potsdam mit einem Buch unterm Arm aus dem Haus treten und schon nach kurzer Fahrt den Ort der Handlung besuchen kann. Und wie die junge Königin Luise steht er dann und wartet, bis sich seine Augen an das Halbdunkel des Waldes gewöhnen und die Natur ihr stilles Schauspiel offenbaren kann. Auch wenn diese regenkalten Novembertage derzeit nicht gerade einladend wirken, empfiehlt sich doch ein Besuch der Pfaueninsel. Oder einfach nur der vorgelagerten, baumreichen Landschaft mit Blick auf das kleine Idyll. Ein ruhiges Plätzchen findet sich hier allemal. Dann nimmt man Thomas Hettches Roman zur Hand und fängt an zu lesen: „Diese Insel, die auf Karten einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal, aus welchen Gründen auch immer an gerade dieser Stelle der hier besonders träge mäandernden, sich weitenden und wieder verengenden Havel gestrandet, an der man wohl vergißt, daß jeder Fluß eine Quelle hat und eine Mündung. Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise, denn zwar verbindet die Havel die Auen des Spreewalds mit denen der Elbe, gerade hier aber scheint ihr Wasser stillzustehen in einer Kette dunkler Seen und sich unter den schattig verhangenen Blätterdächern von Traubeneichen, Flatterulmen und Rotbuchen zu verlieren, in Auenwäldern, feuchten Erlenbrüchen, unter Grauweiden.“

Literatur genießen, gleichermaßen daheim im Lesesessel wie auch am Ort des Geschehens, das erlebt ein Leser nur sehr selten. Mit Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 19,95 Euro), den er am morgigen Mittwoch in Potsdam vorstellt, nimmt dieses Erleben fast schon rauschhafte Züge an. Denn Hettche erzählt wie in einem Märchen von der Pfaueninsel im 19. Jahrhundert, von ihren Bewohnern, dem kleinwüchsigen Christian und seiner Schwester Marie, von ihrem Leiden und ihren Leidenschaften auf dieser Trauminselillusion, wo die Königin Luise bei ihrem Spaziergang durch den Wald überraschend auf Christian stößt und sich dermaßen über diesen „Zwerg“ erschrickt, dass sie knapp acht Wochen später stirbt.

Zugegeben, das klingt recht verrückt und auch recht überdreht, ist aber so herrlich erzählt, dass es schon nach kurzer Zeit wie selbstverständlich wirkt. Es ist eine kuriose Welt, eine Art Traumgespinst zwischen Natursehnsucht und menschlicher Formlust, zwischen Paradiesvorstellungen und Abgründen, das Hettche hier offenlegt. Vor allem aber wie Thomas Hettche das alles erzählt, mit dieser klingenden, akzentuierten und so kunstvoll wie leichten Sprache, das macht dieses Buch zu einem Erlebnis. Ein Leseglück, das wie seine Handlung selbst wie aus der Zeit gefallen wirkt. Dirk Becker

Thomas Hettche stellt seinen Roman „Pfaueninsel“ am morgigen Mittwoch um 20 Uhr in der Villa Quandt in der Großen Weinmeisterstraße 46/47 vor. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 6 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 41 03.

Dirk Becker

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