Kultur: „Die junge Generation hat ihre eigene Stimme gefunden“
Hamed Abdel-Samad über den Umbruch im arabischen Raum und den „Untergang der arabischen Welt“ – morgen stellt er sein Buch in Potsdam vor
Stand:
Her Abdel-Samad, Tunesien, Ägypten, Jemen und jetzt Libyen. Sind diese Unruhen und Umwälzungen, die auch schon als arabischer Aufstand bezeichnet werden, ein Vorspiel für den von Ihnen prognostizierten „Untergang der islamischen Welt“?
Auf jeden Fall. Ich habe die Prognose nicht aus Spaß aufgestellt oder um zu provozieren, sondern weil ich die Entwicklungen dort sehe. Es wächst eine Generation von jungen Menschen heran, die perspektivlos und völlig abgekapselt ist von den alten Strukturen.
Was meinen Sie mit den alten Strukturen?
Die staatlich-diktatorischen Strukturen, die lange Zeit wie durch eine Art Vertrag funktionierten. Wuchs früher eine junger Mensch heran, gab er seine Individualität auf und das System, das Kollektiv beschützte ihn, gab ihm Arbeit, sodass er seine Familie ernähren konnte. Aber jetzt kann der Staat sich das nicht mehr leisten.
Warum funktioniert jetzt nicht mehr, was so lange gut ging?
Weil es mittlerweile so viele junge Menschen gibt. Schauen wir auf diese Länder, in denen gerade die Unruhen stattfinden, stellen wir fest, dass die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist und allein 60 bis 70 Prozent sind unter 30 Jahre. Die Mehrheit dort ist extrem jung. Demgegenüber wird die Generation mit den Trägern der Herrschaftsstrukturen immer älter.
Ein klassischer Generationenkonflikt also?
Ja, und die alternden Eliten werden ideenloser.
Aber deswegen gleich vom „Untergang der islamischen Welt“ reden?
Der Islam als politische Kraft ist am Ende. Das sieht man schon.
Und woran sehen Sie das?
Seit ihrer Gründung im Jahr 1928 hat die ägyptische Muslimbruderschaft immer wieder versucht, die Straße zu mobilisieren. Doch es ist ihr nie gelungen. Die Islamisten konnten keine Revolution entfachen, weil sie die Herzen der Menschen nie wirklich erobert haben. Und für viele der jungen Menschen in diesen Ländern sind die Islamisten genauso wie die Systeme von Mubarak, Ben Ali und Gaddafi: Zu alt. Diese leben nur von Parolen, haben aber keine politischen Konzepte.
In dieser Diskussion verschwimmen schnell die Grenzen zwischen dem radikalen Islamisten und der Religion Islam.
Ja, und natürlich unterscheide ich zwischen diesen beiden. Ich sage immer: Islamismus ist der politische Islam, aber nicht jede Form des Islam ist politisch. Meine Familienangehörigen sind gläubige Muslime, die mit dem politischen Islam nichts zu tun haben. Als spirituelle Kraft hilft der Islam vielen Menschen. Auch in solchen Phasen des Umbruchs und der Veränderung, wie wir sie gerade in der arabischen Welt erleben. Aber neben dieser spirituellen hat der Islam noch eine juristisch-politische Seite. Die war aber für ganz andere Zeiten gedacht. Für das 7. Jahrhundert und damit auch für ganz andere Lebensweisen. Und diese Seite ist meiner Meinung nach heute überholt.
Da werden Ihnen viele widersprechen.
Das zeigt sich aber in dem Kampf, der gerade tobt. Natürlich versucht der politische Islam, in den aktuellen Umbrüchen seinen Weg zu finden. Wie man hier sagt, die Islamisten versuchen auf den Zug aufzuspringen und ihre Chancen auszuloten.
Bisher, so eine landläufige Meinung des Westens, ist es die von Ihnen auch schon angesprochene Perspektivlosigkeit, die junge Menschen in die Arme der radikalen Islamisten treibt. Handelt es sich dabei also nur um eine Randerscheinung?
Nein, das kann man nicht sagen. Für meine Generation der jetzt bald 40-Jährigen waren die Islamisten sehr attraktiv. Wir hatten in Ägypten keine Stimme, aber die Islamisten gaben uns eine.
Auch Ihnen?
Ja, denn ich war selbst Mitglied bei der Muslimbruderschaft als ich 19 Jahre alt war. Denn vielen Studenten kamen aus der Provinz nach Kairo, fühlten sich fremd im eigenen Land, suchten aber Halt, wollten am politischen Protest teilnehmen und Perspektiven sehen. Aber wir haben keine Möglichkeiten gefunden. Und da, wo der Staat gefehlt hat, kamen die Muslimbrüder und haben uns geholfen. Sie boten Wohnungen an, halfen an der Universität und schufen so ein soziales Netzwerk.
Aber sie konnten Sie nicht überzeugen?
Das alles war sehr attraktiv. Auch die geistige Kraft, dieser Gedanke: Wir alle sind eine Nation und kämpfen für den Islam. Aber das sind nur Parolen. Und seit ihrer Gründung im Jahr 1928 haben sie nichts anderes getan als diese Parolen zu verbreiten. Aber zu einer Veränderung in der Gesellschaft kommt es so nie. Sie reden und reden und reden. Irgendwann habe ich mir dann gedacht: Mubarak ist auch 1928 geboren. Das hat schon was zu bedeuten.
Was aber hat die Menschen jetzt auf die Straße gehen lassen?
Die junge Generation, die jetzt heranwächst, hat ihre eigene Stimme gefunden. Und sie hat sogar den Muslimbrüdern wieder eine Stimme gegeben. Darum sind sie auch unabhängig von der Muslimbruderschaft. Sie wollen gut leben und in Würde und Freiheit. Und das Wort Demokratie ist für sie ein schönes, vielversprechendes Wort. Die jungen Muslimbrüder haben lange gezögert, bis sie das Wort Demokratie benutzt haben. Doch jetzt müssen sie es nutzen, weil die Masse der jungen Menschen es benutzt.
Steckt nicht nur Kalkül dahinter, wenn ausgerechnet die Muslimbruderschaft von Demokratie spricht?
Sie haben erkannt, dass die Mehrheit der Ägypter keinen Gottesstaat will. Deshalb müssen auch sie ihre Sprache anpassen. Darum sagen sie jetzt, dass sie einen demokratischen Staat, eine Zivilgesellschaft wollen, trotzdem aber nicht die islamischen Prinzipien aufgeben werden.
Lässt sich das überhaupt vereinbaren?
Nun, von der Scharia sprechen sie in diesem Zusammenhang nicht. Sie orientieren sich an der Türkei, einer Demokratie, die islamisch angehaucht ist.
Mancher könnte jetzt sagen, die Muslimbrüder geben sich nur als Wölfe in Schafspelzen.
Das ist durchaus möglich. Ich stehe ihnen nach wie vor sehr kritisch gegenüber. Ich sage nur, dass ihre Anpassung jetzt ein Zeichen der Schwäche ist. Aber so lange sie in diesen demokratischen Prozess mit einbezogen werden, so lange sind sie nicht gefährlich. Sie werden erst gefährlich, wenn sie verfolgt werden und in den Untergrund gehen. Dann sind sie radikaler, und sie sind dann auch Helden.
Nun sind in Ländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen die politischen Konstellationen sehr unterschiedlich, was Prognosen über einen möglichen Verlauf der Unruhen sehr erschwert.
Was in Tunesien und Ägypten passiert ist, ist der Anfang eines Aufbruchs. Das ist eine friedliche Bewegung, die sich durchgesetzt hat und auch schon erste Erfolge zeigt. Aber in Ländern wie Libyen, Jemen und Algerien sind die Strukturen völlig anders. Dort sind es nicht wie in Ägypten oder Tunesien staatliche Strukturen, die das Land regieren, sondern Stammesstrukturen, verflochten mit Geld und Politik. Und hier kann diese Umbruchbewegung in Bürgerkriege umschlagen, wenn es zu Konfrontationen kommt. Den Anfang davon sehen wir schon in Libyen. So verschwindet der politische Wunsch junger Menschen, besser leben zu wollen, hinter diesem Chaos. Und solche bürgerkriegsähnlichen Stammesfehden fürchtet Europa mehr als die Muslimbrüder in Ägypten.
Warum?
Ägypten kann durch einen normalen politischen Prozess diese Probleme selbst beseitigen. Dafür brauchen wir natürlich auch Unterstützung von außen. Aber wenn es zu solchen Kämpfen wie jetzt in Libyen auch in Algerien und Jemen kommt, dann gibt es Massen von Migranten, die nach Europa kommen wollen.
Es sind aber seitens der politischen Führungen der westlichen Demokratien bislang kaum oder keine klaren Bekenntnisse zu den aktuellen Ereignissen im arabischen Raum zu hören. Woran liegt das?
Das ist Unsicherheit. Denn die europäische Politik ist nicht auf der Höhe der Zeit. Europa ist sehr stark mit sich selbst beschäftigt, und das seit Jahren. Und das ist gefährlich im Zeitalter der Globalisierung. Da muss man blitzschnell und flexibel reagieren. Es gab viel Erbsenleserei und zahlreiche Milchmädchenrechnungen seitens der europäischen Politik seit den Unruhen in Tunesien. Und was auffällig war: Es wurde sofort über die Gefahren gesprochen, bevor man überhaupt die Chancen gesehen hat. Denn wenn es zu einem friedlichen Umbruch in dieser Region kommt, kann die gesamte Welt davon profitieren.
Wie groß sind diese Chancen wirklich?
Ich war während der großen Demonstrationen in Kairo und jeden Tag auf dem Tahrir-Platz, um mit den Menschen dort mitzulaufen. Und ich habe Menschen gesehen, die noch vor zwei Jahren frustriert die Schultern haben hängen lassen. Damals war Leere in ihren Augen. Jetzt sind sie auf einmal sehr selbstbewusst und man spürt deutlich: Sie wollten das Land zurückhaben von Mubarak, um es wirklich zu verändern. Die Hoffnung und Zuversicht ist da. Natürlich bin ich vor allem Realist und weiß, dass der Weg extrem lang ist und Revolution bedeutet nicht automatisch auch Demokratie und freie Wahlen und ein gutes Parlament.
Da scheint bei Ihnen aber mehr der Skeptiker zu sprechen?
Demokratie beginnt im Kopf. Es ist ein Prozess, geprägt von Versuchen und Fehlern. Die Ägypter müssen jetzt Geduld und Ausdauer zeigen. Und sie müssen aufpassen, denn es gibt auch genug Revolutionsdiebe.
Revolutionsdiebe?
Überbleibsel des alten Regimes, die noch an den alten Schaltstellen der Macht sitzen und den Demokratisierungsprozess stören wollen, wo sie nur können. Die politischen Eliten der Nachbarstaaten wie Libyen, Algerien, Syrien und Saudi-Arabien haben auch kein Interesse daran, dass sich Ägypten demokratisiert.
Gibt es trotzdem etwas, das sie hoffnungsvoll stimmt?
Wenn man in die Augen dieser vielen Menschen schaut und ihre Entschlossenheit sieht, ist da doch mehr Hoffnung als Angst.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Hamed Abdel-Samad spricht in der Reihe „NachLese – Das politische Buch“ am morgigen Mittwoch, 18 Uhr, in der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107 (Haus 17) über „Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose“. Das Buch ist im Droemer Knaur Verlag München erschienen und kostet 18 Euro
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: