Kultur: Die Kunst des Selbstbetrugs Ingo Schulze liest
im Peter-Huchel-Haus
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Es ist ein alte Wahrheit, die Ingo Schulze in seinem Essay „Unsere schönen neuen Kleider. Gegen eine marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte“ erzählt. Die Wahrheit vom Offensichtlichen, wie sie so treffend Hans Christian Andersen in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ auf den Punkt bringt. Hier lässt sich ein Kaiser von zwei Betrügern ein Nichts als die schönsten und wertvollsten Kleider verkaufen. Durch einen simplen und so hanebüchenen und wirkungsvollen Trick aber ignorieren alle die offensichtliche Nacktheit. Das Volk, der Hofstaat und der Kaiser selbst. Und als ein kleines Kind endlich ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“, spielt die Obrigkeit ihr Spiel weiter, weil sie nicht zugeben will, nicht zugeben kann, dass sie so plump zum Narren gehalten wurde.
In seinem Essay „Unsere schönen neuen Kleider“, den Ingo Schulze am heutigen Mittwoch im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus vorstellt, greift er dieses Märchen auf, überträgt das Phänomen vom Ignorieren des Offensichtlichen auf unsere Zeit und bezieht politisch Stellung. Dieser Essay, der auf seiner Dresdener Rede von 2012 basiert, muss als Einspruch gegen unser Talent für den Selbstbetrug gelesen werden. In seiner faktenreichen wie poetischen Analyse des Status quo benennt Schulze die Ursachen von Demokratieverlust und sozialer Polarisierung in unserer von Globalisierung geprägten Gesellschaft. Er zeigt, dass es notwendig ist, sich selbst wieder ernst zu nehmen, die Vereinzelung zu überwinden und die Welt als veränderbar zu begreifen. Was die Analyse aber so besonders macht, ist die offensichtliche und so klare Art, mit der Schulze hier die Probleme anspricht und so unser allgemeines Unbehagen über die Zuständen auf den Punkt bringt wie das Kind in „Des Kaisers neue Kleider“: „Wenn ich eine Geldanleihe riskiere mit hohen Zinsen, dann muss ich auch wissen, dass ich auch gar keine Zinsen bekomme oder ein Teil meines Geldes oder gar alles weg sein kann. Wenn ich mich aufs Spekulieren verlege, dann muss ich auch das Risiko tragen. Sobald ich aber eine Bank bin, gilt das offenbar nicht mehr. Wenn die Bank etwas gewinnt, dann gehört es ihr, wenn sie sich verspekuliert, werden die Verluste von der Gemeinschaft übernommen. Und keiner der Akteure wird bestraft oder sonst zur Rechenschaft gezogen. Der einzige Banker, der vor Gericht steht, ist der Chef der Hypo Real Estate, aber nicht als Angeklagter, sondern als Kläger, weil ihm offenbar noch etliche Millionen zustehen. Kann es nicht sein, möchte ich die Experten fragen, dass es verschiedene Interessen gibt? Dass es diejenigen gibt, die daran verdienen, und jene, die es bezahlen? Könnte es nicht sein, dass wir nicht alle im selben Boot sitzen? Dass wir nicht alle über unsere Verhältnisse gelebt haben?“ D.B.
Lesung und Gespräch mit Ingo Schulze am heutigen Mittwoch um 20 Uhr im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus im Hubertusweg 41. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 4 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (033205) 62 9 63
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