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Lesung in der Potsdamer Villa Quandt: Die Last des Lebens

Der amerikanische Schriftsteller David Vann stellt seinen neuen Roman „Dreck“ in der Villa Quandt vor. Das Familiendrama erzeugt mit klaren, kalten Worten ein Höchstmaß an Emotionalität.

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Beklemmung heißt das Gefühl, das anfänglich ein leichtes Kribbeln auslöst, sich immer weiter ausbreitet und sich dann in der Magengrube zu einem großen, schweren Klumpen zusammenballt. Eine tiefsitzende Unbehaglichkeit, die den Drang nach Flucht auslöst. Flucht vor den Worten, Flucht vor ihrer Bedeutung. Beklemmung und Unbehagen, zwei Worte, die versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Im neuen Roman von David Vann „Dreck“ sind es nicht viele, aber wohl gewählte Worte, die Empfindungen auslösen, von denen selbst der erfahrene Leser nicht wusste, dass er sie zu fühlen in der Lage ist. Am kommenden Samstag ist David Vann zu Gast in der Villa Quandt und stellt zusammen mit dem Synchronsprecher Christian Brückner seinen Roman vor.

„Dreck“ erzählt die Geschichte von Galen, der mit 22 Jahren und ohne sein Leben wirklich in der Hand zu haben auf der Walnuss-Plantage seiner Mutter lebt. In einem Haus, das seit Generationen seine Familie beherbergt, doch für Galen nie ein Heim war. Eher ein Ersatzehemann, als Sohn, ist er ein Gefangener der Plantage, des Hauses und seiner Mutter, die mit allen Mitteln versucht, Galen an sich zu binden. Doch Galen strebt nach mehr. Er ist Phantast, lebt in einer anderen Welt. Er versucht sich in Meditation, sucht nach Lösgelöstheit und nach Transzendenz. Nach allem, um nur der erdrückenden Falschheit einer nach außen scheinbar idealen Familie zu entkommen. Und so flieht er in die Welt der Bücher wie Hermann Hesses „Siddhartha“, liest „Die Möwe Jonathan“ und begibt sich von allem Realen so weit weg wie nur möglich.

Auf einem Ausflug mit seiner emotional bedürftigen Mutter, seiner dementen Großmutter, seiner beinahe von Hass auf das Leben zerfressenen Tante und seiner Cousine, die ihre sexuelle Macht über den unerfahrenen Galen sehr gut auszunutzen weiß, beginnt der Anfang vom Ende. Die Situation zwischen seiner Mutter und Tante eskaliert, Galen hat zum ersten Mal Sex und muss anschließend beobachten, wie seine Familie völlig auseinanderzubrechen droht. Wieder auf der Walnuss-Plantage und wieder zurückgezogen in seine eigene Welt, ist es Galens Mutter, die den ersten Schritt in eine Unabhängigkeit zwischen Mutter und Sohn geht. Die inzestuöse Beziehung Galens zu seiner Cousine ist Anlass genug, ihren völlig verkorksten Sohn endlich von sich zu stoßen. Die Drohung, ihn ins Gefängnis zu bringen, löst Galen vollkommen von jeglicher Realität, sodass es zwischen Mutter und Sohn zu einer finalen Auseinandersetzung kommt. So findet sich Galen nicht nur mitten im Dreck des schlammigen Gartens, sondern auch im Dreck seiner Familie, ihrer Geschichte und seiner eigenen Erbsünden wieder und beginnt endlich den Weg zum Mond, zum Losgelöstsein von der Welt und zur vollkommenen Transzendenz zu finden.

David Vann ist mit „Dreck“ ein kleines Meisterwerk der Emotionalität gelungen. Ist seine Hauptfigur Galen auf der einen Seite so fern jeglicher Realität, ist es seine Situation und die seiner Familie, die vor den Augen des Lesers eine tiefes, schwarzes Loch von Bedürfnissen, Hass und kaum zu verstehender Liebe entstehen lässt. Mit einer unglaublichen Klarheit beschreitet Vann in „Dreck“ einen verworrenen Weg, tritt ab und zu an den Wegesrand, beschreibt die Dinge mit kühler Distanz, um gleich darauf wieder mit großen, präzisen Schritten dem Pfad der Geschichte zu folgen. Es sind die klaren, kalten Worte, die den Figuren und Handlungen eine unglaubliche Schärfe geben.

Man muss David Vann mögen, seinen Stil, seine ganz eigene Art Geschichten zu schreiben. Doch wer sich darauf einlässt, kann die Chance ergreifen, sich zwischen den Zeilen, gespickt mit kurzen, abgehackten Sätzen und langen, verwirrenden Beschreibungen, zu verlieren. Schon mit seinen Romanen „Im Schatten des Vaters“ und „Die Unermesslichkeit“ war David Vann in den vergangenen Jahren zu Gast in Potsdam. Wer die beiden Auftritte von David Vann in den Jahren 2011 und 2012 verpasst hat, dem bietet sich nun die Chance, einen Schriftsteller zu entdecken, den man zu den stärksten amerikanischen Autoren zählen muss. Denn mit „Dreck“ ist David Vann nach seinen Romanen „Im Schatten des Vaters“ und „Die Unermesslichkeit“ ein neues Glanztück gelungen. An Präzision und Schärfe dazugewonnen, ist „Dreck“ die lebhafte und eindrucksvolle Darstellung einer Familie, ihrer Tiefen und ihren dunklen Seiten. Es ist eine Geschichte, bei dessen Lektüre sich der Leser beinahe wie ein Eindringling vorkommt, ein Beobachter von nicht für seine Augen bestimmten Szenen. Eine Beobachtung, die Unbehagen auslöst, vor der sich der Leser verschließen möchte. Einer Geschichte, der er nicht zu nah kommen will. Es bleibt ihm einzig die Flucht nach vorne, durch die Seiten, durch die Geschichte, um am Ende allein zurückzubleiben. Allein mit sich und einem Gefühl schwerer Beklommenheit.

Lesung und Gespräch mit David Vann und Christian Brückner, der die Romane von David Vann auch für seinen Hörbuchverlag Parlando eingesprochen hat, am Samstag, 9. März, um 20 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Den Abend moderiert Knut Elstermann. Der Eintritt kostet 10, ermäßigt 8 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 41 03

Chantal Willers

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