Kultur: Die Leichtigkeit des Seins
„Señor Coconut“ weiht mit Elektrolatino die Schinkelhalle ein
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„Ich habe Schweiß auf der Stirn und Baustaub zwischen den Zähnen“, leitet Michael Wegener, der Geschäftsführer vom Waschhaus, seine kurze Eröffnungsrede ein. Am Donnerstagabend wurde die frisch restaurierte Schinkelhalle mit dem Konzert von „Señor Coconut and his Orchestra feat. Argenis Brito“ stilvoll eingeweiht und dem Waschhaus als Zwischennutzer übergeben. Der Geruch von Holzlack liegt in der Luft. Das wuchtige Dachgebälk erstrahlt in rotem Licht, die Bühne leuchtet blau. Der Zementboden sieht aus, als wäre gerade noch einmal frisch durchgewischt worden. Staunend wandeln die langsam eintrudelnden Gäste durch Foyer und Saal oder nehmen an der Bar noch einen Cocktail zu sich.
Dann endlich tritt der Maestro auf die Bühne. Uwe Schmidt alias „Señor Coconut“ und seine siebenköpfige Band beginnen ihr Set mit einem Instrumental. Dann kommt gut gelaunt der venezuelanische Sänger Argenis Brito dazu und das Kollektiv, alle adrett in schwarzen Anzügen gekleidet, ist komplett. Von der Bühne ertönt die ganze Palette lateinamerikanischer Elemente: Merengue, Cha Cha Cha, Salsa, Cumbia. Der glasklare Sound verliert sich auch in den hinteren Reihen der Schinkelhalle nicht. Die Band strahlt die ganz und gar erträgliche Leichtigkeit des südamerikanischen Seins aus.
Inzwischen ist Schmidt seit einem guten Jahrzehnt in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile zu Hause. Dort erfand er auch „Señor Coconut“ und veröffentlichte unter diesem Deckmantel die CD „El baile alemán“, auf der er Kraftwerk-Hymnen im Latino-Gewand coverte. Auch Deep Purple und Elton John konnten ihm auf folgenden Platten nicht entkommen. Auf seiner aktuellen Platte, „Yellow Fever“, hat er Songs des japanischen Äquivalents von Kraftwerk, dem „Yellow Magic Orchestra“ durch die Coconut“sche Verwurstungs-Maschine gezogen. Von „Yellow Fever“ bekommt Potsdam an diesem Abend unter anderem „Behind the Mask“ zu hören, das klingt, als grassierte das Karibik-Fieber in einer Jazz-Big-Band. Mit hölzerner Miene steht Schmidt während des Konzertes hinter seinem Laptop. Sein Orchester ist das komplette Gegenteil dieser Statik. Die Bläsersektion mit Posaune, Trompete und Saxophon besetzt, darf sich bei zahlreichen Soli verausgaben. Die heimlichen Stars des Abends sind die Mannen hinter Vibraphon und Marimba. Virtuos bespielen sie mit ihren Schlägeln die Instrumente und unterfüttern die Songs mit Exotica-Melodien. Sänger Argenis Brito, der Latino-Crooner schlechthin, hat die Frauen im Publikum nach wenigen Minuten eingelullt. Schmachtend intoniert er Neuinterpretationen von „Smooth Operator“ bis „Smoke on water“ in akzentgetränktem Englisch. „Vamos! A bailar“ – Los jetzt, Tanzen! Fast klingt es verzweifelt, wie Brito versucht, den eindringlichen Cha Cha Cha-Rhythmus unters Volk zu bringen. Doch er muss erfahren, wie schwer es mitunter ist, deutsches Blut in Wallung und deutsche Beine zum Tanzen zu bringen. In den ersten Reihen herrscht zwar tanzfreudige Stimmung, doch weiter hinten sieht man gerade mal die Köpfe mitnicken. Trotzdem wird mit groovenden Elektrolatino-Rhythmen der letzte Baustaub aus der Halle und zwischen den Zähnen von Michael Wegener weggepustet. Vielleicht ist der Sommer noch zu jung für soviel sonniges Temperament.
Christoph Henkel
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