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Kultur: Die Lyrik der puren Präsenz

Martine Pisane eröffnet heute die Tanzwochen „Neue Triebe“ in der fabrik

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Gerade versuchen auf der Bühne drei Männer, jeder für sich, in kleine, weiße Plastiktrinkbecher zu tauchen. So arbeitet die französische Choreographin Martine Pisani, die vor knapp zwei Wochen in die fabrik in der Schiffbauergasse eingezogen war, um ihr neues Stück „Hors Sujet ou le Bel Ici“ (Thema verfehlt oder das Schöne hier) weiter zu entwickeln. Sie stellt ihre Tänzer vor ziemlich merkwürdige Aufgaben. Sie gibt Vokabeln oder Sprichwörter vor, und die Darsteller müssen sehen, wie sie „in einem Glas Wasser versinken“, „blubbern“ oder „mit dem eigenen Teufel tanzen“ zu einer Bewegung werden lassen.

Hier, bei einer der letzten Durchlaufproben vor der Präsentation vor Publikum am Mittwoch, nehmen Christophe Ives, Théo Kooijman und Eduard Mont de Palot ihre Regisseurin ganz wörtlich. Es liegt eine Poesie darin, so den Worten auf ihren Urgrund gehen zu wollen. Worte haben ein besonderes Gewicht bei Pisanis Inszenierungen, die fast euphorisch wird, wenn sie sagt: „Ich liebe Lyrik!“ In „Hors Sujet “ spielen Passagen aus einer Erzählung des absurden russischen Autors Daniil Charms eine Rolle, dessen Art, die Dinge zu sehen, Pisani bewundert.

So ungewöhnlich es für eine Tanzproduktion klingt, wenn Worte in ihr gesprochen werden, wie ungewöhnlich erscheint es erst, zu hören, dass Martine Pisani in ihrem neuen Stück nahezu komplett auf Musik verzichtet. Die Tänzer haben hier also nicht die Möglichkeit, sich die Abläufe an einer die Zeit ordnenden Rhythmik zu merken. Das ist tänzerisch besonders herausfordernd. Ihr Zeitgefühl muss von innen kommen.

Einmal hilft kurze Zeit eine Projektion, auf der die Zahlen bis genau 243 hoch- gezählt werden. Der Holländer Kooijman liest synchron dazu mit, kaum hat er Zeit, Luft zwischen den Zahlen zu holen. Vorher hat er die Augen immer wieder auf und zu gemacht. Was bedeutet dieses Treiben auf der Bühne?

„Ich kann gar nicht sagen, was es genau ist“, gibt die Regisseurin zu. Eine Geschichte würde sie jedenfalls nicht erzählen. Zwischen den einzelnen kurzen Sequenzen, die „Utopia“ oder auch „Seiten umschlagen“ heißen, gibt es keine sinnstiftende Verbindung. Die Szenen sind lieb gewordene Überbleibsel aus vergangenen Produktionen, die gestrichen oder nicht gebraucht wurden. Verknüpft werden die einzelnen Bilder durch die präzise einstudierten Übergänge, nicht durch Inhalte also, sondern durch physische Präsenz.

Keine Story, keine Musik, dazu viel gesprochenes Wort: Martine Pisani hat häufig den Vorwurf hören müssen, es handele sich bei ihren Stücken gar nicht um Tanz. Theater lehnt sie als Begriff für das, was sie macht, aber ab, weil sie ja nichts erzählen möchte. „Für mich ist es Tanz“, sagt Pisani, die aussieht, als ob sie diese Fragen nach der richtigen Kategorie für ihre Arbeit nicht mehr hören kann, „weil es sich in Raum und Zeit bewegt.“ Es gehe um Körperpräsenz, die verschiedenen Arten des Sprechens und unterschiedliche Geschwindigkeiten. Wie in jener Szene, in der zwei Tänzer Blickkontakt halten, als wollten sie sich mit den Augen zu Boden ringen. Doch sobald die Blickverbindung abbricht, fällt einer zu Boden und ein Dritter übernimmt seine Stelle.

Pisanis Stücke kommen gerade wegen dieser Eigenarten bei den Zuschauern sehr gut an. Das Stück „Sans“, das Pisani im Jahr 2000 mit der Potsdamer Tanzfabrik koproduzierte, wurde seitdem bereits über hundert Mal aufgeführt. Was das Besondere ihrer Stücke ausmacht, vermag sie nicht zu sagen. „Ich folge einfach meiner Intuition."

Heute, 20.30 Uhr: Martine Pisani „Hors Sujet ou le Bel Ici“, ab 22 Uhr: Stereo Total

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