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Leichtfüßig und sprachgewandt. Die Autorin Annika Scheffel.

© promo

Kultur: Die Magie des Untergangs

Annika Scheffel stellt ihren neuen Roman vor

Stand:

Die Bewohner des Dorfes wollen es nicht wahrhaben, dass ihre Heimat verschwinden wird. Noch liegt ihr vertrauter Ort beschaulich im Tal wie in einer Hängematte, bald aber schon, nach dem Bau eines Wasserkraftwerks, auf dem Grund eines Stausees. Bis zur Flutung bleiben noch sechs Monate. Mehrere Einwohner haben den Umsiedlungsplänen bereits Folge geleistet und das Dorf verlassen. Einige jedoch ignorieren das Unaufhaltbare, wollen nicht wegziehen und leisten verzweifelt Widerstand. Es sind die „Übriggebliebenen“, die keine Welt jenseits ihres Dorfes kennen, die sich kein Leben anderswo vorstellen können, die die für den Abriss bestimmten Markierungen wieder von ihren Häusern schrubben und auch dann noch an ihrem Alltag festhalten wollen, als die ersten Bulldozer anrücken. Von diesen Menschen und ihrem Umgang mit dem Verlust der Heimat erzählt Annika Scheffels neuer Roman „Bevor alles verschwindet“ (Suhrkamp Verlag, 19,95 Euo), den sie am morgigen Mittwochabend in der Villa Quandt vorstellen wird.

Es ist ein Buch mit emotionaler Thematik, eine Geschichte von berührender Traurigkeit, die dennoch und ohne an Ernsthaftigkeit zu verlieren bemerkenswert leichtfüßig, sehr sprachgewandt und häufig mit einem guten Gespür für trockene Komik erzählt wird. Zu verdanken ist dies auch den teils recht ungewöhnlichen, stets aber sehr warm gezeichneten Hauptfiguren. Typen etwa wie der inkompetente Bürgermeister Martin Wacholder, ein notorischer Trinker, der immer noch glaubt, seine ihm vor Jahrzehnten durchgebrannte Frau kehre jeden Moment zurück und derweil seinen 27-jährigen, leicht beschränkten Sohn David, der meist in seiner eigenen Traumwelt lebt, wie ein Kleinkind behandelt. Schöne Figuren sind auch die drollige Greisin Greta Mallnicht, die einmal im Jahr aufs Kirchendach klettert, um dort das Kreuz zu putzen, ihre verschrobene Freundin Mona Winz, die davon überzeugt ist, dass ihre verstorbene Mutter in ihrem Bauch weiterlebt, die unzertrennlichen Zwillinge Jula und Jules Salamander oder auch der Hobbyschauspieler Robert Schnee, der ohne Aussicht auf Publikum unbeirrt ein Stück einprobt und mit wehender Toga über den Dorfplatz rennt. All die Geschichten und Einzelschicksale dieser Dörfler werden im Roman in kunstvoll ineinander verzahnten Episoden erzählt, sodass im engen Aktionsradius des namenlos bleibenden Ortes ständig die Perspektiven wechseln. Schnell wird beim Lesen klar, dass jeder dieser Dorfbewohner nicht nur sein eigenes Geheimnis hütet, sondern sich zunehmend auch der Realität verweigert und seltsame Parallelwelten schafft. Der bröckelnde Zusammenhalt, die Ohnmacht angesichts der verordneten, unausweichlichen Umsiedlung und die Angst vor dem Verschwinden des Zuhauses verwandeln das Dorf bald in einen märchenhaften, mystisch schauerlichen Ort. Immer wieder taucht plötzlich ein blauer Fuchs in den Straßen auf, streift nachts ein steinerner Löwe durch den Ort, und dann ist da noch Milo, ein gespensterhaft blasser Junge, den nur die Bewohner sehen können.

Wie schon in ihrem 2010 erschienenen Romandebüt „Ben“ baut Annika Scheffel auch in ihrem Zweitwerk „Bevor alles verschwindet“ das Magische ganz unvermittelt, wie selbstverständlich in ihre Erzählwelt ein, wobei ihr die fließenden Übergänge zwischen den realen und surrealen Ebenen scheinbar mühelos gelingen. Das gibt ihrem Roman die Kraft eines Gleichnisses und macht die Lektüre zum Genuss. Daniel Flügel

Am morgigen Mittwoch um 20 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47 vor. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro

Daniel Flügel

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