zum Hauptinhalt
Umgeben von den Resten der Sterblichen. Der Erzengel Gabriel mit seiner Trompete, mit der er am Tag des Jüngsten Gerichts die Toten weckt, in der Knochenkapelle im polnischen Czermna.

© Paul Koudounaris/Im Reich der Toten

Kultur: Die Nähe der Toten

Im Ullmann-Verlag ist mit „Im Reich der Toten“ ein Bildband über Beinhäuser erschienen, der auch viel über unser heutiges Verhältnis zum Tod erzählt

Stand:

Es empfiehlt sich, zuerst nur die Bilder zu betrachten. Dieses Buch zu durchwandern und sich dem befremdlichen Kult auszusetzen. Diesen Stapeln mit menschlichen Schädeln und menschlichen Knochen; die aus heutiger Sicht so bizarr anmutenden Verkleidungen menschlicher Skelette; die bemalten Schädel und die Kunst und Architektur aus menschlichen Gebeinen. Wir verspüren einen Grusel, erinnern uns an Schauergeschichten und Horrorfilme. Und je genauer wir diese Fotografien betrachten, manches von dem Gezeigten vielleicht sogar ästhetisch reizvoll finden, auch das Religiöse dahinter erahnen, wird das Gefühl, diese dabei entstehende Nähe zum Tod wieder aufzulösen, doch immer stärker.

Dann sollte man damit beginnen, die dazugehörigen Texte von Paul Koudounaris zu lesen. Denn dann eröffnet sich eine Zeit und eine Welt, in der der Tod selbstverständlicher war und die Auseinandersetzung mit ihm direkter, weil bewusster. Und je mehr wir darüber lesen, umso klarer wird uns, wie sehr wir das Sterben und den Tod aus unserem Leben ausgegrenzt haben. Wie fremd und unangenehm uns dieses Thema mittlerweile geworden ist. Dann lesen wir den Satz des belgischen Philosophen Raoul Vaneigem: „Wir sterben nicht, weil wir müssen, wir sterben, weil es eine Gepflogenheit ist, an die sich unsere Gedanken vor gar nicht einmal allzu langer Zeit gewöhnt haben.“ Und wir müssen lachen. Weil diese Worte so klar, so wahrhaft und gleichzeitig so befreiend sind.

„Im Reich der Toten. Eine Kulturgeschichte der Beinhäuser und Ossuarien“ ist der opulente Bildband des Amerikaners Paul Koudounaris betitelt, der jetzt im Potsdamer Ullmann-Verlag erschienen ist. Auf 224 Seiten hat Koudounaris, der an der University of California, Los Angeles, in Kunstgeschichte promoviert wurde, die Kulturgeschichte der europäischen Beinhäusern, Grabstätten und Kapellen zusammengefasst, in denen vom Beginn der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert die Knochen von Toten aufbewahrt wurden. Ob nun – so makaber das in diesem Zusammenhang auch klingen mag – als regelrechte Stapelware wie in dem Metamórphosis-Kloster im griechischen Metéora oder in der ehemaligen Kapelle St. Katharinen im münsterischen Cham. Ob als bunt bemalte Schädelsammlung in der Kapelle St. Michael im österreichischen Hallstadt oder als kompletter Raumschmuck in der Capela dos Ossos der Pfarrkirche Nossa Senhora da Expectacaco in Portugal – was heute auf uns als Betrachter verstörend wirken kann, vielleicht sogar schockierend, war damals immer ein ehrenvoller und vor allem bewusst in das alltägliche Leben einbezogener Umgang mit den Toten. Ob in den Katakomben von Rom oder Paris, die Toten wurden hier nicht einfach abgeschoben oder unter die Erde gebracht. Sie blieben Teil der Gesellschaft als direkter Bezug zu den Ahnen und somit zur eigenen Herkunft. Als Memento mori, also der Aufforderung, sich immer des Todes und somit der eigenen Vergänglichkeit zu erinnern und bewusst zu sein. Gleichzeitig aber auch als Bewusstsein darüber, dass der Tod nicht als etwas Endgültiges verstanden wurde, sondern nur als eine Art Zwischenspiel bis zur Erlösung am Tag des Jüngsten Gerichts.

In Portugal, Spanien und Frankreich, Italien, Deutschland, Polen und der Schweiz war Paul Koudounaris unter anderem für seine Recherchen unterwegs. Er hat zahlreiche Aufnahmen aus den Beinhäusern und Ossuarien gemacht, die einen vielfältigen Einblick in diese faszinierende Welt geben. Und auch wenn die Abbildungen in dieser Menge und Ausführlichkeit schon spektakulär wirken, sind es doch vor allem die Texte, die „Im Reich der Toten. Eine Kulturgeschichte der Beinhäuser und Ossuarien“ zu einem herausragenden Buch machen und mit dem der Ullmann-Verlag wieder einmal sein feines Gespür für bestimmte Themen und deren anspruchsvolle und gleichzeitig lesbare Umsetzung unter Beweis stellt.

In sechs Kapiteln erzählt Koudounaris die Kulturgeschichte der Beinhäuser und Ossuarien. Er erzählt von Ritualen mit den Gebeinen der Ahnen, die bis in die Jungsteinzeit zurückreichen und somit als Vorläufer der späteren Beinhäuser verstanden werden können. Koudounaris zeigt dabei, wie eng früher Leben und Tod miteinander verbunden waren und dass diese Beinhäuser, die damals auch aus einer gewissen Notwendigkeit heraus entstanden sind, immer heilige Orte waren. Weil der Platz auf den Friedhöfen nur beschränkt war, wurden die Knochen nach einer gewissen Zeit der Verwesung wieder ausgegraben, gereinigt und in die dafür vorgesehenen Räume niedergelegt. Denn die Gebeine sollten immer in der Nähe des Göttlichen, also den Kirchen oder geheiligten Orten aufbewahrt werden, damit am Tage des Jüngsten Gerichts die Seelen in ihre ursprünglichen Körper zurückfinden können, die beide ja – trotz der fleischlichen Vergänglichkeit – als eine Einheit angesehen wurden.

Paul Koudounaris beschreibt dies mit feinem Gespür für Details und manche skurrile Episoden, wie von den sogenannten Transi-Gräber im Mittelalter, die selbst die Leichen Adliger und kirchlicher Würdenträger jedem im Prozess der Verwesung zeigten. Als Zeichen dafür, dass vor dem Tod jeder gleich ist und der Stolz der Lebenden mehr als trügerisch. So ließ der Kardinal Jean de Legrange in Avignon im frühen 15. Jahrhundert auf sein Grabmal schreiben: „Elender, bist du so stolz? Du bist nichts als Asche, und zu Asche wirst du, so wie wir ein übelriechender Kadaver, Schmaus und Leckerbissen für die Würmer, und Asche.“

Doch was diesen Bildband am stärksten wirken läss, ist Koudounaris’ wiederholter Bezug auf das Heute und unseren verkniffenen Umgang mit dem Tod. Das hat dann oft, fast schon ganz beiläufig, auch eine philosophische Dimension. Ein wirklich nur zu empfehlendes Buch über den Tod.

Dirk Becker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })