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Sehnsucht nach Schutz? Oder bedrohliche Geste der Ausgrenzung?

© imago/blickwinkel

Renate Zöller fragt: „Was ist eigentlich Heimat?“: Die Nutte mit Hirschgeweih

Die Heimat ist eine Nutte. Oder zumindest ist sie ein nuttiger Begriff.

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Die Heimat ist eine Nutte. Oder zumindest ist sie ein nuttiger Begriff. „Sie schmiegt sich an jeden an, der sie benutzen will“, heißt es in Renate Zöllers Buch „Was ist eigentlich Heimat?“. Die freie Journalistin, die unter anderem für die „taz“ und den tschechischen Rundfunk tätig war, zitiert damit den Volkskundler Friedemann Schmoll. Ihn und andere hat sie befragt, um sich dem Ungreifbaren anzunähern. Dabei hat sie vor allem eines erkannt: Heimat ist nicht allein ein Ort, sie ist ein Gefühl. Ihr Buch, das sie eigentlich „Heimaten“ nennen wollte, hat sie am vergangenen Mittwoch in der Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung vorgestellt und über die versteckten Pluralitäten der Heimat – die laut Duden doch nur im Singular existiert, wie der Verlag betonte – diskutiert.

Erst einmal sind da ja die klassischen Hirschgeweihe, das saftige Grün der Landwiesen, die in Schnee getunkten Alpenwipfel, rotbackige Pausgesichter. Eben das Klischee der Heimatfilme, die der Nachkriegsgesellschaft als kollektives Sedativum verabreicht wurden: Krieg? Gibt es nicht. Schuld? Nein, danke. In einer Gegenbewegung versuchte sich die Folgegeneration an der Flucht nach außen, wollte flexibel sein, die Welt bereisen. „Auf Dauer lässt sich die Heimat aber nicht ausradieren“, so Zöller. Sie klebt an einem, ja mehr noch, sie hinterlässt Spuren in unserem Gehirn. Genauer: Enigramme im zentralen Nervensystem, ausgelöst von besonderen Reizen oder Eindrücken. „Je positiver diese Eindrücke waren und je öfter wir sie erlebt haben, umso stärker sind die Engramme synaptisch verfestigt. Ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine besondere Landschaft“, so Zöller.So verbindet sich die Heimat mit einem Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit und mausert sich so zum mentalen Sehnsuchtsort.

Im schönen Retrogefühl lauert jedoch auch Gefahr und hier kommt die Nuttenhaftigkeit des Heimatbegriffs ins Spiel: Weil das Gefühl von Heimat jeden berührt, wird ihr vermeintlicher Schutz als Mittel zur Ausgrenzung missbraucht: „Es wird bei den momentanen Demonstrationen viel mit dem Heimatbegriff gespielt. Das ist nicht Heimat, was diese Menschen diskutieren. Das ist Nationalismus. Die machen sich um andere Dinge Sorgen“, sagt Zöller.

Die modernen Heimatschutzvereine nennen sich Pegida und AfD, die Invasoren der Geborgenheit sind die Flüchtlinge. Absurd, wo doch gerade diese Menschen ihre Heimat an Krieg und Terror verlieren. Den Kriegsflüchtlingen widmet Zöller einige Kapitel in ihrem Buch. Weil es im September letzten Jahres erschien, ist das Buch nicht als Antwort auf die aktuelle Flüchtlingssituation entstanden. Stattdessen befragt Zöller etwa die 25-jährige Tanja – Vater Serber, Mutter Bosnierin –, die nach dem Verfall Jugoslawiens nach Berlin kam. Bis zu ihrem 19. Lebensjahr kam sie von dort dann auch nicht mehr weg, denn erst dann erhielt sie einen Pass.

In Berlin hat Tanja nie ihre Heimat gefunden, obwohl sie den Großteil ihres Lebens dort verbracht hat. „Wahrscheinlich würde ich mich heute als Deutsche fühlen und hätte mich angepasst, wenn ich nicht immer wieder darauf gestoßen worden wäre, dass ich Ausländerin bin“, sagt sie. Ihre Andersartigkeit wurde ihr immer dann bewusst, wenn andere ihr einen Stempel aufdrücken wollten. „Du bist ein Ausländer!“, hänselt sie einer ihrer Mitschüler, als der mitbekommt, wie sie mit ihrer Mutter Bosnisch spricht. Als ein Flüchtling des Kosovo-Krieges aus ihrer Klasse sie eine serbische Hure nennt, fängt sie vor Empörung an zu weinen. Sie ist verletzt, muss sich vor die Klasse erklären: dass im Jugoslawien-Krieg Frauen in beiden Lagern vergewaltigt und fortan als unrein angesehen wurden. Als sie versteht, dass sie in Deutschland immer nur die Ausländerin sein wird, stürzt sie sich in die Entdeckung ihrer Herkunft, hört bosnische Musik und beschäftigt sich mit dem Koran – und kehrt nach Sarajevo zurück. Dort spürt sie zum ersten Mal das Gefühl von Heimat.

Heimat ist also vielleicht da, wo man sich entfalten kann, wo man sich sicher wähnt. Das betrifft nicht nur Flüchtlinge: Die Ohnmacht gegenüber den Katastrophen und den Ansprüchen der globalisierten Welt, in der Flexibilität und Mobilität längst keine Anzeichen persönlicher Freiheit, sondern berufliche Zwänge sind, führt zu einer Rückkehr zum Heimatgedanken, meint Zöller. Dann ist die Wohnung also wohliger als die weite Welt? Vielleicht nicht. Die Lesung macht aber bewusst, wie viel der schillernde Begriff Heimat eigentlich mit Angst zu tun hat. „Die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, solange sie nicht bedroht ist. Erst dann beginnen sie, sie zu vermissen.“ Die Ambivalenz der Sehnsucht nennt Zöller das. So ist die Heimat reich beschmückt: mit Hirschgeweih – aber auch mit diabolischen Hörnern.

Theresa Dagge

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