zum Hauptinhalt

Kultur: Die Ökonomie liegt immer oben

Wojtek Klemm hat die Regie für „3000 Euro“ am Hans Otto Theater übernommen. Heute ist Premiere

Stand:

Zutiefst unsichere, versehrte Figuren sollen sie sein, Anton und Denise. So schrieb es das Feuilleton auf und ab. Anton und Denise, das sind die Hauptfiguren in Thomas Melles Roman „3000 Euro“ und damit auch im gleichnamigen Theaterstück, das am heutigen Freitag am Hans Otto Theater Premiere hat. Das ist natürlich Unsinn, weil es so tut, als sei unsicher und versehrt etwas, was Anton und Denise besonders macht. Und weil dieses väterlich-herabschauende „versehrt“ eine Differenz aufklaffen lässt zwischen Rezipient und Figur, die es bei Melle nicht gibt – und in der Inszenierung von Wojtek Klemm ebenfalls nicht. Weil wirklich jeder, der in Anton oder Denises Situation stecken würde, irgendwie unsicher wäre. Verletzlich. Und verletzt. Und weil jeder in ihre Situation kommen könnte.

3000 Euro – eigentlich nicht viel. Der durchschnittliche Monatslohn eines deutschen Arbeitnehmers. Aber nicht viel sind 3000 Euro natürlich nur, wenn man sie hat. Bei Anton reichen 3000 Euro Schulden, um aus einem irgendwie noch funktionierenden Leben ins Nichts zu fallen. Ins Übergangsheim. In die Obdachlosigkeit. Eben hat er noch Jura studiert. Dann ein bisschen gefeiert. Dann war der Führerschein weg und dann die Schulden da.

Denise hat keine Schulden, 3000 Euro fehlen ihr aber trotzdem. Die hat die alleinerziehende Kassiererin nebenbei beim Pornodreh verdient. Doch auf das Geld wartet sie seit Monaten schon. Weil sie einen Traum träumt wie viele andere, weil sie einmal nach New York will und dafür gearbeitet hat, sitzt sie jetzt an der Supermarkt-Kasse und zittert. Und schwitzt. Weil sie nicht von den Männern erkannt werden will. „Es stehen“, heißt es im Text, „wieder ausschließlich Männer in ihrer Schlange. Und ja, ihre Blicke triefen wieder vor Geilheit.“

Wojtek Klemm geht es darum, dass die Liebe immer hinter die Ökonomie zurücktreten muss. Die Ökonomie immer oben liegt. „Es ist der Versuch einer poetischen Auseinandersetzung mit einer unglaublich prosaischen Situation“, sagt Klemm. Das klingt spröde. Theoretisch. Aber wenn man diesen getriebenen Mann da in der Kantine des Hans Otto Theaters sitzen sieht, versteht man schon, was er meint. Er will einen Ton finden, einen Gesang, sagt er, der das Alltägliche übersteigt. „Das ist ja eigentlich eine normale deutsche Biografie die da erzählt wird, ein Jedermann quasi, der aus dem Umlauf fällt.“ Die Figuren fliegen direkt aus der Mitte an den Rand der Gesellschaft und die Zentrifugalkraft, das ist das Perfide, ist so groß, dass es kein Dagegenankommen gibt. „Das kann überall passieren“, sagt Klemm. In Berlin genauso wie in Warschau, obwohl dort die Kräfte noch viel größer seien, das Schleudern einen noch viel härter gegen die Wand werfe.

In Warschau ist Klemm 1972 geboren, studiert hat er dann an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch. Nachdem er hier mit Frank Castorf und Christoph Schlingensief zusammengearbeitet hat, ist er seit 2005 viel in Polen, seit 2009 auch in Tel Aviv engagiert. Von dort nach Potsdam scheint der Weg ganz schön weit. Er selbst sieht das nicht so. „Wie man auf mich gestoßen ist, weiß ich nicht. Man hat mich gefragt und ich hatte Zeit“, sagt er lapidar. Kaum drei Wochen hatte er Zeit, die Arbeit von Fabian Gerhardt aufzunehmen, der kurzfristig erkrankt ist.

Wenig Zeit also, die Regie in die Hand zu nehmen, das Ensemble kennenzulernen – und das Stück. „Den Stoff kannte ich gar nicht.“ Aber er hat sich die Bühnenfassung von Melles Roman habbar gemacht. „Für mich ist die Sprache sehr wichtig. Wie die Figuren miteinander reden.“ Das meint für ihn vor allem auch das Unausgesprochene, das nicht zu Ende Gedachte. Diese Momente, in denen die Figuren nebeneinander stehen und nichts sagen – das Gespräch aber trotzdem weitergeht.

Weil Wojtek Klemm das Ganze größer denkt, sind es bei ihm auch nicht zwei, sondern acht Figuren, allesamt eingeschlossen in der von ihm kreierten Welt. Stellvertretend werde natürlich viel über diese zwei Figuren erzählt – aber die anderen sind immer alle da. „Das ist ein bisschen wie das Floß der Medusa, das da immer weiter aufs offene Meer treibt, auf dem die Leute eingeschlossen sind“, sagt Klemm und leiht sich damit ein Bild des französischen Romantikers Théodore Géricault.

Das klingt düster, aber gleichzeitig sieht er auch viel Komisches in dem Stoff. „Die Figuren scheitern ja auf eine unglaublich schöne Art und Weise, und wie sie immer wieder aufstehen, das ist dann sehr lustig.“ Scheitern als Chance, da ist Klemm ganz bei Christoph Schlingensief. Der Unterschied zwischen seinen Figuren und den arroganten Feuilletonisten ist eben nicht ihre Verletzlichkeit. Sondern die Tatsache, dass sie sich nicht abfinden mit dem Käfig. Weil sie den Schmerz noch spüren. „Sobald man anfängt, den zu sedieren, mit Geld oder Bequemlichkeit, hört man auf zu existieren“, sagt Klemm. Sein Figuren können – oder wollen das nicht. Ariane Lemme

Premiere heute 19.30 Uhr, Reithalle Schiffbauergasse, ausverkauft. Eventuell Restkarten an der Abendkasse (23 Euro)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })