Kultur: Die Schneeeule über der Landschaft
Villa Quandt: Tragödie, Satire, Reflexion – Schreiben über die Wende
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Siebzehn Jahre nach dem Ende der kommunistischen Ära stellt sich die Frage, in welcher Form die Literatur auf den Epochenwandel reagiert hat. „Gibt es den Wenderoman?“ lautete die Frage des Moderators Karim Saab bei der Veranstaltung des Brandenburgischen Literaturbüros in der Villa Quandt mit Schriftstellern aus drei Ländern und zwei vormals verschiedenen politischen Systemen. Es erstaunte nicht, dazu sehr unterschiedliche Stimmen zu hören, entsprechend der ausgeprägten Persönlichkeit jedes einzelnen Autors.
Der Berliner Schriftsteller Jens Sparschuh fand eindringliche Worte für den Roman „Die Mütter“ von Theodora Dimova, der 2001 in Bulgarien und in diesem Jahr auf Deutsch erschienen ist. Nachdem der Roman bereits in Bulgarien preisgekrönt wurde, erhielt er zuletzt den Großen Preis für osteuropäische Literatur, eine Auszeichnung, die als Prestigeprojekt der Bank Austria entstanden sei, wie der Übersetzer Alexander Sitzmann bemerkte. Von Konflikten zwischen Eltern und Kindern im postsozialistischen Bulgarien, von Alkoholismus, Depressionen und Trennungen erzählen die sieben Geschichten des auf einem Theaterstück basierenden Romans. Theodora Dimova ginge den „tragischen Weg“, stellte Sparschuh angesichts der „furchtbaren Tragödie“ des Finales fest und zeigte sich beeindruckt von der „meisterhaften Schilderung des Umschwungs in das Verbrechen“.
Für ihre Lesung hatte Theodora Dimova einen Dialog zwischen Tochter und Vater gewählt, in dem die seelischen Verhärtungen auf beiden Seiten mit antiker Wucht zum Ausdruck kamen. Ganz anders klingt Alek Popov. Sein Roman „Mission London“ kommt in der Verkleidung der Satire daher, seit der römischen Antike das beliebteste Genre zur Entlarvung von Missständen aller Art. Misstrauische Reaktionen riefen die Schilderungen von den Zuständen in der bulgarischen Botschaft in London bei den bulgarischen Verlegern hervor, erzählt der Mittvierziger, der selbst einmal Kulturattaché seines Landes in London war, und zwar gerade bei den neuen demokratischen. Nur ein kleiner Verlag wagte sich an die Erstpublikation und gewann. Inzwischen sind zahlreiche Auflagen und mehrere Übersetzungen erschienen. Für Julia Schoch, die Alek Popov vorstellte, ist dieser Roman ein „Panoptikum“, ein „Clash der Kulturen“, in dem alle bemüht sind, die „Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken“. Alek Popov sprach von einer langen Tradition der Selbstironie in Bulgarien und auf dem Balkan schlechthin und von einer Epoche der „freigewordenen Energie“.
Wieder andere Töne schlägt Cécile Wajsbrot an. Die in Paris geborene Tochter polnischer Juden, die zurzeit als Stipendiatin des DAAD in Berlin lebt, las aus ihrem demnächst auf Deutsch erscheinenden Roman „Aus der Nacht“. Es ist die Geschichte einer Reise von Frankreich nach Polen, zu den Wurzeln der Familie, auf den Spuren einer lang verschütteten Geschichte. Beschreibungen, Begriffe und Reflexionen prägten den vorgetragenen Ausschnitt. Eine einsame Schneeeule über stillen Landschaften verbindet die einzelnen Romanabschnitte. Vielleicht sei die Schneeeule eine „Metapher für Erkenntnis und Erkundung“ meinte Tanja Dückers als Begleiterin von Cécile Wajsbrot. Damit war ein Stichwort geliefert. Die Literatur trage stets ein Geheimnis in sich, hieß es abschließend übereinstimmend: „Ich erkläre das Offenkundige, das Unerklärliche“, wie Cécile Wajsbrot schreibt. Unter solch mystischen Prämissen kann die Debatte über den so genannten Wenderoman noch lange nicht abgehakt werden. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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