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Stück ohne Protagonisten. In der aktuellen Inszenierung der kroatischen, in Paris lebenden Künstlerin Ivana Müller erzählen nur die Nebenfiguren das Geschehen. Ihr Stück „Edges“, das in Potsdam seine Deutschlandpremiere erlebt, rütteln damit an den Grundfesten der Aufführungspraxis im Theater.

© Franck Boisselier

Kultur: Die Seele des Unsichtbaren

Zwei Tanzstücke bei „Made in Potsdam“ kitzeln die Vorstellungskraft der Zuschauer.

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Immer nur das zeigen, was da ist, ist ja eigentlich ganz schön langweilig. Klar, man kann auf der Bühne, durch Inszenierung, die Dinge deutlicher machen. Ihren Kern freilegen, sie vom Nebel des Nebensächlichen befreien. Dann sieht man sie schärfer. Man kann sich aber auch, wie Antonia Baehr und Valérie Castan oder Ivana Müller, mit den Dingen beschäftigen, die eigentlich gar nicht da sind, oder nur am Rand existieren. Die Choreografinnen zeigen am heutigen Freitag und auch nochmal am Samstag ihre Stücke: „des Miss et des Mystères“ und „Edges“ in der Fabrik, quasi als Abschluss des „Made in Potsdam“-Festivals.

Mit der Kraft der Vorstellung arbeiten Antonia Baehr und Valérie Castan. Bevor es etwas zu sehen gibt, baut Castan eine Welt mit ihrer Stimme. Sie beschreibt, was es zu sehen gibt oder geben könnte. Monoton, fast tonlos, klingt ihre Stimme, keine Stimmungen sollen die Vorstellung der Zuschauer beeinflussen. Nur die Kraft der Worte soll wirken. So entsteht – zumindest in der für den WDR entwickelten Hörspiel-Version – ein ganz eigenartiger Sog. Es beginnt ganz banal: „Es ist dunkel, ich spreche über ein Mikrofon zu Ihnen. Der Vorhang verbreitet Staubgeruch“. Und trotzdem merkt man schon, wie viel düsterer, intensiver die Bilder im Kopf sein können, als alle durch die Augen aufgesogenen. Es ist ein bisschen wie mit Träumen, in denen auch die absurdesten Kleinigkeiten ein schier untragbares Gewicht haben können.

Begleitet wird Castan – die im Stück anders als in der Hörspielfassung französisch spricht nur vom Innenklavier, einem Instrument, das Andrea Neumann spielt. Live. Eher Hörspiel also als Tanzstück? Vielleicht, genauso aber Nouvelle Vague Drag Show.

Zum einen – und das unterstreicht das Hörspielhafte – geht es um Erinnerungen aus der Kindheit. Aus der Zeit, als es noch mühelos war, sich Welten und Universen auszudenken. Vielleicht, weil weder Erfahrung noch Ratio, kein „das geht nicht“, dazwischen funkten. Eine Zeit, in der es logisch schien, dass nicht nur Menschen – und vielleicht noch Tiere – sondern auch Gegenstände beseelt sein können. Animismus also, etwas, das die meisten mit indigenen Völkern verbinden – obwohl er auch hier weit verbreitet ist. Nicht nur Kinder im Alter zwischen zwei und sieben Jahren können sich vorstellen, dass Gegenstände menschliche Eigenschaften haben können. Bei Walt Disney etwa sind die Gegenstände oft belebt. „Und viele reden auch mit ihrem Auto“, sagt Baehr.

Weil man sich die Protagonisten oder Tänzer ohnehin vorstellen muss, habe sich für das Stück, so Baehr, auch angeboten, mit der Zuordnung von Geschlecht zu spielen. Was macht Kinder zu Männern oder Frauen? Die Biologie – oder eher die Gesellschaft? Die Kinder im Stück tragen Jungs-Vornamen, sind aber Mädchen. Allerdings keine Mädchen-Mädchen, sondern Tomboys, was sich nur bieder mit „Wildfang“ übersetzen lässt. Mädchen, die sich der klassischen Rollenzuschreibung nicht einfach anpassen wollen. Schon der Titel des Stücks „des Miss et des Mystères“ spielt darauf an, weil er ein wenig klingt wie das englische Miss und Mister, Fräulein und Mann.

Die Idee, mit Audiodeskription zu arbeiten – also zu beschreiben, was passiert, lag für Baehr und Castan nahe. Castan hat sich nach ihrer Karriere als Tänzerin in Frankreich zur Audiodeskriptorin ausbilden lassen. Eigentlich gibt es den Beruf bislang nur für Film und Theater, er soll Blinden Besuchern helfen, das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen. Sie ergänzen das, was unausgesprochen abläuft, die Gesten, Gesichtsausdrücke, Gefühle. Castan hat sich auf Tanz spezialisiert, was natürlich ziemlich anders ist. Denn hier gibt es außer der Musik keine auditive Ebene, alles was passiert, ist Bewegung und nur visuell zu verstehen.

Um die nicht-zu-Sehenden geht es bei Ivana Müllers „Edges“: Auch hier übernimmt die Fantasie der Zuschauer eine eigene Rolle bei dem, was auf der Bühne sicht- und vorstellbar ist. Die Hauptrollen bleiben verborgen, allein die Nebendarsteller sind hier zu sehen. Ganz verschwunden sind die Hauptfiguren aber nicht, sie hinterlassen ihre Spuren in den Bewegungen, den Gesten und den Aktionen der Statisten. Ein Trick, mit dem Müller die Mechanismen des Theaters auf den Kopf stellt und den Blick des Publikums weitet. Es hat die Sicht frei auf das, was sonst im Getöse untergeht. Im Grunde ist es eine Underdog-Story – nur mit ganz neuen Mitteln erzählt.

Wie gut das sein kann, mal die Perspektive zu wechseln, zeigen die Reaktionen mancher Besucher auf „des Miss et des Mystères“, das schon im Berliner Hebbel am Ufer lief. „Manche der Sehenden sind enttäuscht vom visuellen Teil, die finden ihren imaginären Stuhl viel schöner“, sagt Baehr.

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