zum Hauptinhalt

Kultur: Die Sehnsucht der Melusine

„Verborgene Facetten“ – Studien von Renate Böschenstein zum Werk Fontanes

Stand:

„Wie aus einer Matroschka purzeln vier Figuren aus mir heraus: die spontane Leserin, die Fontane-Liebhaberin, die Zeitgenossin, die Literaturwissenschaftlerin ... So kennzeichnet Renate Böschenstein (1933 - 2003) ihr Verhältnis zu Theodor Fontane, dessem Werk sie einen bedeutenden Teil ihrer Forschungen gewidmet hat. Mit einem „Studienbuch über Fontane“ wollte die 70-jährige, die seit 1958 an der Freien Universität Berlin und seit 1969 an der Unversität Genf lehrte, eine umfassende Monographie über den Dichter herausgeben. Sie sollte 2004 bei Reclam erscheinen. Dazu kam es wegen des Todes der international renommierten Literaturwissenschaftlerin nicht mehr.

Dem Potsdamer Fontane-Archiv ist deshalb besonders zu danken, wenn es Entwürfe und bereits vorliegende Texte für diese Monographie in den jetzt im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienenen Sammelband „Verborgene Facetten. Studien zu Fontane“ – Herausgeber sind Hubertus Fischer und die Leiterin des Archivs, Hanna Delf von Wolzogen – aufgenommen hat. Er vereint mehr als 20 Arbeiten und Essays von Renate Böschenstein. Der Leser erfährt so, dass die Literaturwissenschaftlerin beginnend mit der Biographie Fontanes über dessen autobiographische Schriften, die Briefe, die publizistischen Texte wie Kritiken, Reiseberichte und Kriegstagebücher, einem eigenständigen Kapitel über die „Wanderungen in der Mark Brandenburg, die Gedichte, die erzählerischen Schriften, die historischen und Zeitromane und die Kriminalgeschichten bis hin bis zu einem herausgelösten „Melusinen-Komplex“ in dem unvollendet gebliebenen Werk kein Feld Fontaneschen Lebens und Wirkens ausgelassen hätte.

Für diese Darstellung konnte Renate Böschenstein die Ergebnisse ihrer umfassenden und tief lotenden Forschungen heranziehen, die hinter den von Fontane geschilderten realen Personen und Ereignissen die psychologischen Hintergründe, die Symbole und Mythen erschließen.

Dafür sei als Beispiel die Meer(jung)frau Melusine genannt, die nicht nur Fontane fasziniert hat. Als Naturwesen kann sie sich ihren heißen Wunsch, menschlich zu fühlen, nicht erfüllen und endet tragisch. Böschenstein spürt Züge der Nixe in zahlreichen literarischen Figuren Fontanes auf, von der „Oceane“ eines frühen Romanentwurfs bis zur Gräfin Melusine im Alterswerk „Der Stechlin“. Sie weist in diesem Zusammenhang auch auf die „Distanz“ Fontanes zur Natur hin. Er habe sich geweigert, „die Macht anzuerkennen, die die äußere Natur als solche besitzt“. Sicher, ein Naturschwärmer war Fontane nicht, er begriff sie, ohne ihr den Respekt zu versagen, als durch den Menschen zu gestaltende Umwelt. Darin sind ihm viele Leser gefolgt und folgen ihm noch heute. Die Landschaft der Mark hat sicher kein Autor so bekannt gemacht wie Fontane in seinen „Wanderungen“.

Am Beispiel des Romans „Effi Briest“ hat die Literaturwissenschaftlerin die „Funktion der Klischees in Fontanes Sprache“ untersucht. Sie stellt fest, dass seine Figuren solche Klischees sehr häufig benutzen, der Autor aber an Höhepunkten der Handlung durchaus die individuelle Ausdrucksweise vorzieht, was einen bedeutenden Dichter auszeichne. Dagegen könnte man einwenden, dass der gelernte Journalist dem Volk (oder sagen wir Adel und Bürgertum) „aufs Maul schaute“ und der Verwendung von Formeln der Alltagssprache seine bis heute ungebrochene Popularität mit verdankt.

Nur zwei Beispiele für die in dem Band zu findende Fülle von Deutungen zu Muttergestalten oder dörflichen Idyllen, die für einsame Menschen zum „Todesraum“ werden, bis hin zum Symbolgehalt von in den Romanen vorkommenden Tieren oder von Personennamen. Sie faszinieren, schließen aber Widerspruch nicht aus. Damit sei auch gesagt, dass die „Verborgenen Facette“ keine Bettlektüre sind. Die intellektuell anspruchsvollen Texte erfordern höchste Konzentration. Gerade der „spontane Leser“, der mit „Effi Briest“ liebt und leidet oder am Stechlinsee beim alten Dubslav am Kaffeetisch sitzt, wird danach seinen Fontane mit neuen Augen sehen.

Erhart Hohenstein

Renate Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. In der Reihe “Fontaneana heraugegeben von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, 569 S., 49,80 Euro, ISBN 3-8260-3237-3.

Erhart Hohenstein

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })