Kultur: Die seltsamen Reisen der Olga Tokarczuk Heute liest die polnische Autorin bei Wist
Als das Ehepaar Kunicki sich ins Auto setzte und die Urlaubsreise nach Kroatien unternahm, schien alles normal zu sein. Die gepackten Koffer, Streitigkeiten im Auto und das Quengeln des Kindes waren der gewohnte Rhythmus einer wohlverdienten Erholungsreise in den sonnigen Süden.
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Als das Ehepaar Kunicki sich ins Auto setzte und die Urlaubsreise nach Kroatien unternahm, schien alles normal zu sein. Die gepackten Koffer, Streitigkeiten im Auto und das Quengeln des Kindes waren der gewohnte Rhythmus einer wohlverdienten Erholungsreise in den sonnigen Süden. Wäre da nicht dieser merkwürdige Zwischenfall, die dringende Bitte, anzuhalten. Er, Kunicki, wusste ganz genau, wie es gewesen ist. Sie stieg aus, nahm das Kind und war verschwunden. Nein, antwortete er bei der Polizei, kein Abschiedsbrief, kein Hinweis, er wüsste nicht mal mit Bestimmtheit, welche Kleidung sie trug. Sie hatte vielleicht ein schwarzes T-Shirt an, das Kind trug eines mit einem Elefanten drauf. Tagelang hat man von ihnen nichts gehört, die ganze Insel wurde auf den Kopf gestellt, bis plötzlich der Ehemann zum Tatverdächtigen wird.
Vielleicht hat dieser unscheinbare Pole die eigene Frau und das Kind in den Tod getrieben? Allein kehrte der Ahnungslose in die Heimat zurück. K. suchte nach Indizien, untersuchte den Kulturbeutel, kontrollierte Eintrittskarten und versuchte sich zu erinnern. Bis eines Tages seine Frau und das Kind nach Hause kamen ... Nie sollte er erfahren, was in diesen Tagen des Verschwindens geschah.
„Unrast“ heißt der neue Roman der polnischen Autorin Olga Tokarczuk, der kurz vor der Buchmesse in Leipzig im Schöffling Verlag erschienen ist. Das Thema des Buches umfasst im wesentlichen das Prinzip des Reisens. Wer jedoch denkt, er findet in diesem Roman Beschreibungen konkreter Orte oder die Auflistung von Sehenswürdigkeiten, der irrt. Drei Jahre lang hat die dem deutschen Publikum durch Bücher wie „Ur- und andere Zeiten“ , „Der Schrank“ oder „Spiel auf vielen Trommeln“ bekannte Schriftstellerin an diesem Text gearbeitet, hauptsächlich während ihrer Reisen. „Mich interessiert die Frage“, so Tokarczuk, „warum wir reisen und was das Verreisen überhaupt bedeutet.“ Der polnische Titel des Buches „Bieguni“ schickt den Leser inhaltlich schneller auf den richtigen Pfad als die deutsche „Unrast“. „Bieguni“ war eine russische Sekte, die im 18. Jahrhundert erfolgreich missionierte. Ihre Mitglieder verstanden die Welt als Werk des Teufels und versuchten durch das ständige Umherreisen, durch das Entsagen häuslichen Lebens sowie Besitzverzicht dem Bösen zu entkommen. Die letzten Vertreter dieser Sekte trifft die Autorin in Moskau. Es sind Bewohner von U-Bahnhöfen, die nach gleichen Grundsätzen leben. Annuschka, eine von ihnen, die immer auf der Flucht ist, findet der Leser in Tokarczuks Roman wieder.
Der Aufbau des Romans erinnert an Einträge in einem Tagebuch. Der Text versammelt aber auch kurze Reiseberichte, allgemeine Reflexionen und präsentiert Geschichten über die modernen Nomaden, die überall auf der Welt zu Hause sind. Die Wartehalle des Flughafens wird zu einem Ort der Kontaktaufnahme, und die Lobby eines teueren Hotels zu einem unterhaltsamen Beobachtungsposten. Olga Tokarczuk hat noch nie Fragen nach dem Sinn des Lebens gescheut. Im Buch fragt die Ich-Erzählerin diesmal nach der Existenz Gottes. Möglicherweise gibt es Gott gar nicht mehr, und das Fernsehen ist an seine Stelle getreten. Offen bleibt die Frage, wie weit sich der Mensch von sich selbst entfernt hat.
Auffallend ist das Interesse der Erzählerin für Anatomie. Plastinate, präparierte Exponate aus verschiedenen Museen wie zum Beispiel die Missbildungen von Embryos mit zwei Köpfen etwa oder in Formalin eingelegte Organe wie Chopins Herz haben es ihr besonders angetan. Die Beschreibungen von Muskelfasern und der Hautpartien, überhaupt die Geschichten über den menschlichen Körper zeigen sehr deutlich, dass diese Autorin und gelernte Psychologin eine große Vorliebe für Medizin hat. Ein seltsames, faszinierendes Buch. Katja Stein
Heute, 20 Uhr, Literaturladen Wist.
Katja Stein
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