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Kultur: Die sieben verlorenen Jahre

Schüler der Stadtschule haben sich auf die Suche nach der „Kleist-Spur“ in Potsdam gemacht

Stand:

Engel und Schwebende hinterlassen für gewöhnlich keine Fußspuren. Die auf Erden wandeln müssen schon. Der Dichter Heinrich von Kleist war beides nicht, kein Schwebender und erst recht kein Engel, obwohl ihn die Sehnsucht nach der Seligkeit schon im 34. Jahr wieder aus dem Leben trieb. Seine Potsdamer Zeit bezeichnete er gern als die „sieben verlorenen Jahre“. Hier reifte sein Entschluss, dem ungeliebten Militär den Rücken zu kehren, um sich, Kants Vernunft-Ideologien im Kopf, endgültig Kunst und Wissenschaft zu widmen. Studierende der Abiturstufe an der einstigen Grand Ecole, heute die Lehranstalt für den zweiten Bildungsweg in Potsdam, wollten jetzt genauer wissen, ob es wirklich vergebliche Jahre waren und welchen Wege der Dichter hier zwischen 1792 und 1799 gegangen war. Ganz freiwillig und aus purer Neugierde suchten sie ein halbes Jahr lang nach Häusern und Straßen, lasen und recherchierten, ordneten und gestalteten. Was sich schließlich als bisher unbekannte „Kleist-Spur“ zu erkennen gab, stellten sie am Montag der Öffentlichkeit vor.

Kaiserwetter zum Siebenschläfertag, starker Flugverkehr am Himmel, Lampenfieber in den Herzen der kostümierten Eleven. 40 Besucher fanden sich zum kleinen Stadtrundgang ein, bestimmt nicht nur Angehörige der emsigen Kleistspuren-Sucher. Respekt. Die 16 Studierenden hatten sich vorgenommen, Geschichte und Geschichten über Orte und Menschen zu erzählen, die für Heinrich von Kleist bis zu seinem 21. Jahr, als er Potsdam wieder verließ, bedeutsam waren.

Gemeinsam ging man von der Schule aus ins Holländische Viertel, wo sich die Wohnung des 14-jährigen Offiziersanwärters befand, in den Innenhof der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 89, dem Wohnort von Luise von Linckersdorf, seiner Verlobten auf Zeit. Danach dann die dritte Station: Ausgerechnet da, wo heute das bekannte Kaufhaus der Stadt ist, in der Brandenburger Straße, bekam Kleist die wichtigsten Impulse für sein Leben und Sterben, denn hier, im Salon von Marie von Kleist, gingen Potsdams Liberale aus und ein, man spekulierte über Kants Vernunftsbegriff und über die Freiheit vom Thron. Bei seiner Namensvetterin und Mäzenin traf der Dichter auf Henriette Vogel, die er später, bevor er auf sich selbst zielte, auf ihren Wunsch hin erschoss.

Weiter ging es zum Ordonanzhaus Charlottenstraße, der Meldestelle für den Armeedienst. Ist die Nr. 31 ein Begriff? Kabarett „Obelisk“, wie passend! Hier machte sich Heinrich von Kleist mit vielen seiner späteren Freunde bekannt. Einem, Ernst von Pfuel, erst Leutnant, 1848 preußischer Ministerpräsident, schrieb er um 1805 gar glühende Liebesbriefe. Wenige Häuser weiter, in Nummer 54, nahm er Flöten- und Klarinettenunterricht beim Hofmusikus Beer. Am Ordonanzhaus hörte man übrigens auch ein paar Sätze aus seiner Schrift über den sicheren Weg zum Glück, die reinste Aufklärung, der ganze Kant, unreifes Zeug!

Die „Kleist-Spur“ endete wieder in der Großen Stadtschule. Fazit: Wenn die Zeit zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr die prägendste im Leben eines Menschen ist, dann mögen die sieben Jahre Potsdam dem labilen, elternfern heranreifenden Kleist wohl sauer geworden sein. „Verloren“ waren sie nicht. Oder doch?

Es gab an diesem Siebenschläfertag ja noch eine zweite Veranstaltung. Unter der Regie von Andreas Lüder, Regisseur des freien Theaters Marameo, gestalteten Studierende des Leistungskurses Deutsch in einer szenischen Lesung jene Begebenheit nach, mit der das Leben Heinrich von Kleists und Henriette Vogels am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee sein Ende nahm. Die Collage aus Zeitungsartikeln, Polizeiberichten und Zeugenaussagen im historischen Schulhof hätte sich kürzen lassen, trotzdem passte sie zur nachmittäglichen „Kleist-Spur“. Reifung an Geist und Seele gleichsam vor Ort, die letzten zwei Schüsse aus seiner Pistole als Summe des Lebens jenseits der Havel, ganz bewusst und gewollt. Seine Seele sei wund, schrieb er zum Abschied, er scheide mit Freuden, ja fast mit Entzücken, auf Erden sei den beiden doch nicht zu helfen. Nanu, seit wann gibt es denn für aufgeklärte Leute ein „Anderswo“, jene „Ewigkeit“, darin einer den anderen wiedersehen will?

Beide Veranstaltungen gehören zum Zyklus „Kleist-Jahr in Potsdam“, beide werden wiederholt. Vielleicht finden die Studierenden bis dahin ein etwas kritischeres Verhältnis zu diesem Burschen, sein Schreiben und Leben betreffend. Denn abgerechnet wird immer am Schluss, und besagte „Ewigkeit“ ist für alle nicht da. Bei Schwebenden und bei und Engeln freilich weiß man das nicht so genau.

Gerold Paul

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