Kultur: „Die singende Revolution“ angezettelt
Gespräch mit der lettischen Schriftstellerin Mara Zalite in Lindenstraße 54
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Gespräch mit der lettischen Schriftstellerin Mara Zalite in Lindenstraße 54 Die Gitterstäbe an den Fenstern der Lindenstraße 54 haben auch nach 15 Jahren nicht ihre Wirkung verloren. Schaffen noch immer ein beängstigendes Szenario, das an politischen Terror und Gewalt erinnert. An die sorglose nahtlose Nachfolgeschaft bis 1989. Alle Totalitarismustheorien bestätigend. Ein eindrücklicher Hintergrund für das Gespräch mit der lettischen Schriftstellerin Mara Zalite, das vom Deutschlandradio Kultur geführt und eine Initiative der Kulturhauptstadt Potsdam 2010 war. Mara Zalite wurde 1989 in ihrem Land zur „Frau des Jahres“ ernannt. Die Schriftstellerin, Dramatikerin, Essayistin und Lyrikerin gilt als wichtige Figur der „Singenden Revolution“. Heute ist sie Präsidentin des lettischen Schriftstellerverbandes. Erst ein Studienaufenthalt in Gotland habe ihr die Möglichkeit gegeben, Rückschau zu halten. Auf ihr eigenes Leben. Von dem sie erzählt. Das 1951 in einem Sibirischen Straflager begann. Dem winzigen untergewichtigen Mädchen habe niemand in der unwirtlichen Umgebung eine Überlebenschance eingeräumt. Eine litauische Gefangene habe sie schnell getauft, um sie nicht ungläubig sterben zu lassen. Aber in dem kleinen Mädchen entfalteten sich im Archipel Gulag Bärenkräfte. Es überlebte. Eine georgische Mutter habe sie gestillt. Vierjährig kam sie 1956 mit ihren Eltern nach Lettland zurück. Die Großeltern waren bereits in der Gefangenschaft gestorben. „Psst! Über Sibirien muss man schweigen.“ Immer wieder habe sie von der Mutter diesen Satz gehört. Und tief verinnerlicht. Auch als sie in der Schule „Oktoberkind“, Pionier und Komsomolzin wurde. Nach dem Schulabschluss studierte sie lettische Literatur. Sehr bald fand ihre Sprachlosigkeit in der Lyrik ihren Ausdruck. Die metaphorische Sprache manövrierte ihre Gedichte an der Zensur vorbei. Verwob das lettische Volkslied (Daina) mit mythologischen und gegenwärtigen Motiven. Von ihren Landsleuten wurde sie schnell verstanden. 1976 erschien ihr erster Lyrikband. 1979 erhielt sie den georgischen Lyrikpreis. Bald darauf leitete sie den Schriftstellerverband, in dem es viele oppositionelle Dichter gab. Sie wurden zu Wortführern der Bürgerrechtsbewegung. Als schwieriger erwies sich die Veröffentlichung ihrer Dramen. Sie waren unmissverständlicher. Ihr erstes Theaterstück wurde 1982 von der Zensur verboten. Nicht ihre Person, aber ihre Worte und Sätze, die sich aus einer Urquelle speisten, hätten den Menschen Hoffnung und Mut vermittelt. Seelische Kräfte verliehen. Die „Singende Revolution“ angezettelt. Worin das Verbrechen ihrer Eltern bestand? Wurde sie gefragt. Nicht ihre Eltern waren die „Volksfeinde“ gewesen. Sie waren zum Zeitpunkt der Deportation zehn und elf Jahre alt. Ihre Großeltern waren die „Übeltäter“. Sie waren Bauern mit einem Landbesitz von 16 Hektar Land. Das war der Schuldpunkt. Als die Sowjetarmee 1941 die Baltischen Länder besetzte, war die Sowjetunion bereits kollektiviert. Landbesitz war ein Verbrechen. Zum augenblicklichen Verhältnis zwischen Russen und Letten wird sie befragt. 30 Prozent der Bevölkerung in Lettland wäre russisch. Sie hätten eigene zweisprachige Schulen. Viele Russen weigerten sich, die lettische Sprache zu lernen. Die Einsprachigkeit führte zur Ghettoisierung. Und geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was neue Probleme schaffte. Was sie sich von der Zukunft in Europa erhoffte, wird sie ebenfalls gefragt. Bei ihrem Aufenthalt in Visby auf Gotland habe sie erfahren, dass die psychologische Entfernung der baltischen Länder von Europa viel größer sei, als die geografische. Das sollte sich unbedingt ändern. Auch erhoffe sie eine Neubewertung und Aufarbeitung des Stalinismus. Ähnlich wie in Deutschland mit dem Nationalsozialismus verfahren wird. Noch immer gäbe es viele Menschen im heutigen Russland, die Stalin verehrten. Die noch immer nach dem totalitären Gut-Böse-Schema urteilten und lebten. Erst wenn die Unmenschlichkeiten benannt werden, können die Betroffenen nach ihrer Meinung aus der Opferrolle herausfinden. Noch immer könne sie mit ihrer Mutter nicht über Sibirien sprechen. Es bliebe noch ein unaufgearbeiteter literarischer Stoff. Auf den zu hoffen ist. Barbara Wiesener
Barbara Wiesener
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