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Kultur: Die Stimme, die ein Instrument ist Vokalakrobatik von Michael Schiefel

Er ist eine wirkliche Ausnahmeerscheinung in der deutschen Jazz-Szene. Das ist zunächst leicht gesagt, denn als männliche Jazz-Stimme steht Michael Schiefel fast allein in weiter Flur.

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Er ist eine wirkliche Ausnahmeerscheinung in der deutschen Jazz-Szene. Das ist zunächst leicht gesagt, denn als männliche Jazz-Stimme steht Michael Schiefel fast allein in weiter Flur. Nachwuchs ist kaum in Sicht. Im Nikolaisaal präsentierte Schiefel am Samstagabend seine „unerhörten Vokaleskapaden“, wobei das Augen- oder vielmehr Ohrenmerk auf seine neue CD „Gay“ gerichtet war. Auf der Bühne des Nikolaisaals flankiert ihn am Flügel Andreas Schmidt und an der Gitarre Christian Kögel. Wobei dies nur die Hauptinstrumente der beiden „Sidekicks“ sind. Besonders Schmidt sollte an diesem Abend mit manch musikalischer oder auch nur entfernt musikalischer Überraschung aufwarten. Zunächst aber Schiefel: Kerzengerade steht er im grünen Schummerlicht. Klangfetzen von links und rechts umwehen ihn wie Windböen. Schiefel steigt in schwindelerregende Höhe mit einer Falsett-Melodie ein. Langsam wird eine Struktur erkenntlich. Schmidt wirft einige Synthieflächen in den Raum und Kögel beginnt sich an der Gitarre auszutoben. Sprachsamples zischen wie Raubvögel durch die Luft. Mit einem riesigen Board an Effektgeräten, sicherlich im Wert eines Kleinwagens, hat der Mann an den Saiten genug Spielereien, um seinem Instrument die psychedelischsten Sounds zu entlocken. Schiefel spielt auf keinem Instrument, er ist eines. Das ist weniger Metapher als man zu glauben vermag. Nur Instrumente nachahmen ist ihm zu wenig, er scheint sich in die Klangkörper hineinzufühlen, sich quasi in sie zu verwandeln. Minutenlang singt der Musiker Cellosoli und seine rechte Hand ist dabei immer mit dem imaginären Bogen am Streichen, mit der linken Hand am Greifen, als ob er sich selbst bespielt. „Nur Liebeslieder“, verspricht er dem Publikum immer wieder, und in der Tat sind es die gefühlvollen, ruhigen Töne, die das Konzert dominieren. Richtig spannend wird es aber besonders wenn die Songstrukturen völlig wegbrechen, eine Art Anarcho-Jazz heraufzieht. Schmidt stellt ein Weinglas in den Flügel und die Saiten klirren scheppernd gegen dieses. Kögel friemelt mit Wah-Wah-Effekten und Bottleneck fragil-verschrobene Songgebilde und Schiefel krümmt und windet sich, während er die kleinsten und größten Intervallsprünge unglaublich zielsicher intoniert. Das Publikum im Nikolaisaal wiegt sich mit oder ist einfach nur verblüfft, ob der ungewöhnlichen Klänge, die ihnen von der Bühne entgegenschwappen. Sorgen um ihre Zukunft als Gastmusiker bei Schiefel müssen sich Schmidt und Kögel allerdings bei einem interessanten Projekt ihres Frontmanns machen: Schiefel nimmt seine Stimme live auf, loopt sie und bastelt sich so sein eigenes musikalisches Bett, auf das er weitere Vokaldecken schichtet. Das klingt extravagant ungewöhnlich und bringt Bewegung in die teilweise extrem minimalistische Vorführung. Die Musik weckt vielzählige Assoziationen: Filmmusik, mal Kubrick, mal Hitchcock. Dann die atmosphärischen Flächen wie Sigur Rós, experimentierfreudig wie Björk. Moderator Lothar Jänichen stellt schließlich Vergleiche zwischen Michael Schiefel und Stimmwundern wie Al Jarreau und Bobby Mc Ferrin an. Doch sind dies nur Krücken, denn die Vielseitigkeit des Sängers verhindert jede Einordnung. Ob dieses Live-Erlebnis auch auf Platte gebannt diese hypnotisierende Wirkung ausübt, bleibt abzuwarten und auszuprobieren. Christoph Henkel

Christoph Henkel

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