Kultur: Die Unbequeme
Ines Geipel las aus „Seelenriss“ in Kleistschule
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Man merkte, wie sehr es Ines Geipel am Herzen lag, über das Tabuthema Depression zu reden. Mehr intuitiv, bisweilen sprunghaft oder in weiten Bögen hängte sich ein Gedanke an den nächsten. Und sie sei froh, nicht in einer Talkshow zu sitzen, wo man den Schmerz wegrede und von Biomarkern spreche, um seelische Erkrankungen von Menschen zu beschreiben. Einen denkbar natürlicheren Rahmen für die Premiere ihres neuen Buches: „Seelenriss. Depression und Leistungsdruck“ bot ihr da am Dienstagabend die Kleistschule.
Wenn die Trauerfeier eines durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Fußballstars fast zum Staatsbegräbnis gerät, kann man das Heuchlerische daran förmlich riechen. Auch Ines Geipel machten diese Bilder, diese mediale Aufbereitung rund um den Selbstmord Robert Enkes aus dem vergangenen Jahr recht nachdenklich und lieferten ihr letztlich einen besonderen Aufhänger für ihren Depressionsreport. Ein absolut lesenswertes Buch, das trotz der nötigen fachlichen Exkurse keine medizinische Abhandlung sein will, sondern eher wie eine literarische Erzählung funktioniert und dabei durch die Vielzahl biografischer Skizzen beinahe so etwas wie eine Reise durch die dunkle deutsche Seelenwelt darstellt.
Unter Verzicht auf den moralischen Zeigefinger und bar eines interpretatorischen Ungestüms will Ines Geipel dabei stets auf die Verquickung von persönlichen mit historischen Bruchstellen aufmerksam machen. Mehr frei redend als vorlesend, mehr das Gespräch mit dem Moderator Hendrik Röder oder den zahlreichen Gästen suchend als auf ihr Geschriebenes fixiert. Denn nur die ersten Seiten ihres Buches liest sie recht rasch und mit dezenter Betonung, jene Passagen also, welche die Kindheit und Jugend Robert Enkes umkreisen.
Depression, so Ines Geipel, sei ein Endstück unbewusster Anfänge. Das frühe Ja zu einer Fußballerkarriere dürfte einem Jugendlichen, dessen Vater man als Leichtathleten die Olympiateilnahme verweigert hatte, nicht nebenbei von den Lippen gekommen sein. Ein Stück unerlöster Vatergeschichte, wenngleich sicher keine so drastische Bruchstelle wie die spätere Trennung des Vaters von der Familie. Doch Ines Geipel zählt die historischen Komponenten hinzu, die „Stasi-Schwein“-Rufe, von denen der Sohn aus eher oppositionellem Elternhaus anfangs in der Bundesliga empfangen wurde, seine Hilflosigkeit, darüber zu sprechen, lange vor dem bitteren Scheitern beim FC Barcelona und dem Restdasein als „aussortierter Spielerschrott“. Wenn sie dieses längst nicht mehr nur im Leistungssport vorherrschende, brutale Entweder-Oder-Prinzip anklagt, weiß die ehemalige DDR-Weltklasse-Sprinterin Ines Geipel bestens, wovon sie da redet. Sicher, den Leistungssport betreibe man ja freiwillig, wie sie auf eine Publikumsmeinung entgegnet, doch seien junge Talente besonders verführbar und würden oft ungeschützt in einer Kultur der Exzesse vermarktet, den Schatten der Depression späterhin preisgegeben.
Es liegt eine Festigkeit in den freundlichen Augen dieser Frau, wenn sie ihre Standpunkte vertritt und begründet und so manch unbequeme Meinung äußert. Freilich – man mag ihren Gedanken nicht immer folgen, wird sich jedoch ihrem Enthusiasmus, ihres Engagements und ihrer Aufrichtigkeit nur schwerlich entziehen können. Entsprechend herzlich der Applaus und groß auch das Interesse der gut 100 Gäste an einem handsignierten Buch der Autorin. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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