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Chronist einer freudlosen Existenz. Der Schriftsteller Wilhelm Genazino.

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Kultur: Die Unerträglichkeit des Alltags

Wilhelm Genazino stellt seinen aktuellen Roman „Wenn wir Tiere wären“ in der Villa Quandt vor

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Er hat eigentlich alles und ist darüber todunglücklich. Der Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos aktuellem Roman „Wenn wir Tiere wären“ ist ein amüsanter Miesepeter. Als freiberuflicher Architekt mit geregeltem Einkommen versieht er seinen Arbeitsalltag ebenso lustlos, wie er auch die Liebe seiner Lebensgefährtin eher hinnimmt und ihrem Aktionsdrang oft willenlos Folge leistet. Denn von sich aus versucht er „überflüssigen Erlebnissen“ ganz bewusst aus dem Weg zu gehen, wodurch er sehr viel Zeit hat und Raum für ein überaus langweiliges Dasein in einer modernen Großstadt.

Unruhig, doch ziellos schlendert er dann durch ihre Einkaufspassagen, vorbei an glanzlosen Fassaden und meist leeren Geschäften. Akribisch registriert er jede Regung seines Innenlebens, schaut bevorzugt Frauen hinterher und analysiert entzückt deren Leiber. Er bewundert Details am Wegesrand und besonders die beneidenswerte Selbstvergessenheit von Tieren. Schonungslos aber richtet er seinen Blick stets auf die vielen banalen Hässlichkeiten seiner Umgebung und auf die blassen Schablonen, die der programmierte Alltag in der modernen Berufs- und Vergnügungswelt bereithält. Doch geht selbst er, der auf seine Individualität so großen Wert legt, dann am Abend „wie ein x-beliebiger Massenmensch mit einem Fertigsalat nach Hause“.

Auch in seinem aktuellen Roman bleibt Wilhelm Genazino seinem alten, großen Thema treu. Seit seiner Ende der 70-er Jahre erschienenen „Abschaffel“-Romantrilogie porträtiert der Autor immer wieder diese alternden Büromenschen und Angestellten inmitten ihrer freudlosen Existenz. Für eine Depressionsprosa eignen sich diese Figuren allerdings kaum. Vielmehr versteht es der heute 69-jährige Büchnerpreisträger Genazino, allein durch die intensive Wahrnehmungskraft seiner Helden, einerseits realistisch überscharfe, oft gallig ironische Momentaufnahmen zu zeichnen und anderseits eine Verzweiflungskomik aufzubauen, die den pessimistisch melancholischen Beobachter von allerlei Alltagsabsurditäten, spätestens bei dessen Selbstreflexionen, selber als lächerliches Kerlchen zeigt. Dass bei diesen konzentrierten Wirklichkeitsabbildern die Handlung des Romans nur spärlich und bisweilen nebensächlich wirkt, mindert den Reiz an der Lektüre keineswegs.

So bleibt auch die Geschichte des namenlosen Ich-Erzählers in „Wenn wir Tiere wären“ recht überschaubar. Kaum dass sein Kollege überraschend gestorben ist, scheint es, als übernehme er prompt dessen Rolle. Er bekommt nicht nur die frei gewordene Stelle im Architekturbüro und beginnt schon auf der Beerdigungsfeier eine Affäre mit der Witwe. Nein, auch die kleinkriminellen Tricks seines Vorgängers setzt er mithilfe eines zuvor gefundenen fremden Personalausweises fort. Ziemlich hemdsärmlig, doch seltsam fatalistisch macht er sich daran, das ordentliche, unerträgliche Regelwerk seines Alltags zu durchbrechen. Mit welchen teils skurrilen Beobachtungen, Gedankengängen und Erkenntnissen dieses Unterfangen aber verbunden ist, das schildert Wilhelm Genazino wahrlich meisterhaft. Daniel Flügel

Wilhelm Genazino stellt am morgigen Mittwoch, um 20 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47, seinen Roman „Wenn wir Tiere wären“ vor. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 6 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 41 03

Daniel Flügel

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