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Kultur: Die Verzauberer

Potsdamer Tanztage: Die Kunst von Jess Curtis zehrt von den Künsten

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Jess Curtis schert sich nicht um vierte Wände. Mit huldvollem Abstand zwischen Darsteller und Zuschauer hat er, das merkt man gleich zu Beginn von „Under the Radar“, nicht viel am Hut. Bevor es losgeht, ist er schon überall zugleich. Gerade noch fing er Ankömmlinge am Eingang der fabrik ab, dann tigert er zwischen den Zuschauerreihen umher, um dort Bar und Bier anzupreisen. Seine Empfehlung: Zwei Flaschen, eine für jetzt, eine für später. Letztere könne man bequem unter den Stuhl stellen, um sie bei Gelegenheit parat zu haben. Jess Curtis ist an diesem Abend nicht nur Regisseur, Gitarrist, Sänger, Tänzer und Akrobat; er gibt auch den Gastgeber.

Soviel gastgeberischer Übereifer, soviel Performance vor der eigentlichen Performance - kann das gut gehen? Es kann. Und nicht nur gut, sondern – in den besten Momenten, und davon gibt es viele – atemberaubend, bestürzend schön. Neben allem genannten ist Jess Curtis vor allem ein Verzauberer. Einer der weiß, wovon die Menschen im Saal träumen, wovor sie sich fürchten oder ekeln, und all das in einer Art philanthropischen Zirkuswelt auf die Bühne bringt, irgendwo zwischen somnambuler Akrobatik und kabarettistischer Träumerei. Hier siedelt Curtis sein Universum an: Zwischen der schönsten Utopie menschlichen Miteinanders und den schlimmsten Einsichten in die hässlichen Ecken des Menschseins.

Jess Curtis schafft diesen wundersamen Balanceakt nicht allein: Seine Kunst zehrt von den Künsten, und auch von den Bürden seiner Mitstreiter. „Gravity“ (Schwerkraft) heißt die von Curtis im Jahr 2000 gegründeten Gruppe. Neben Tänzerinnen Ulrike Bodammer und Maria Francesca Scaroni gehört auch der Komponist Matthias Hermann dazu sowie die Ausnahmekünstlerinnen Claire Cunningham und Kaz Langley. Beide bewegen sich anders als es konventionelle Tänzer tun. Cunningham geht an Krücken und Langley sitzt im Rollstuhl.

„Under the Radar“ tut nicht so, als sei das egal - im Gegenteil. Weil man die Verletzlichkeit der gehandicapten Frauen nicht verbergen kann, lässt Curtis sie mitspielen. Er fordert die Zuschauer auf, hinzusehen, wo man sonst vorbei sieht: Zu Beginn sieht man etwa minutenlang, wie wird Kaz Langley gegen spastischen Zuckungen ankämpft und dann mühsam den Satz „I can“t keep still“ herausbringt. Unsentimental, ehrlich, doch humorvoll. Curtis zeigt nicht nur die Mühe, die hinter jeder Bewegung steckt, sondern auch Momente, in denen diese Anstrengungen von geradezu ätherischer Leichtigkeit abgelöst werden. Wenn Claire Cunningham etwa, gestützt auf ihre Krücken, den Körper von Jess Curtis abschreitet, als hätten ihre Beine kein Gewicht. Oder wenn Kaz Langley und Jörg Müller an Seilen durch den Raum schwingen, als hätten sie Flügel. Gerade weil man um die Verletzlichkeit der Körper weiß, sind diese Augenblicke berückend schön. Hier,im zärtlichen, verträumten Zusammenspiel, im Einander-Stützen zeigt sie sich: Curtis“ Utopie vom Ende des Einzelkämpfertums. Eine soziale, politische Utopie.

„Under the Radar“ ist ein Stück über das Ausloten menschlicher Zwischenräume und körperlicher Grenzen; in der Bewegung miteinander wachsen die Körper über sich hinaus. Als wäre das nicht betörend genug, wartet Jess Curtis“ Truppe auch noch mit unerhört gut gemachter Live-Musik auf, am Mikrophon Claire Cunningham, die Musik studierte, bevor sie zum Tanz kam. Gegen Ende schwebt sie auf einem Seil über dem Bühnenboden und singt, verletzlich und ungeheuer kraftvoll, Händels Messias: „How beautiful are the feet“. Das Bild kann für den ganzen Abend gelten: Verzaubernd in seiner Verletzlichkeit und Kraft – und voller wunderschöner Füße.

Die fabrik zeigt Claire Cunningham noch einmal mit einem Solo im Rahmen der „Kurzen Stücke“. Sonntag, ab 18 Uhr

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