Kultur: Die wahnsinnige Magnolie
Lyrik-Jazz-Fest in der Bibliothek Potsdam
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Lyrik-Jazz-Fest in der Bibliothek Potsdam Gleich zwei Alternativlösungen musste sich die Stadt- und Landesbibliothek Potsdam für ihr 1. Lyrik & Jazz-Fest „Grüne Träume“ einfallen lassen. Um das Wetter gar nicht erst herauszufordern, wurde die Veranstaltung kurzerhand vom Innenhof in die Räumlichkeiten der Bibliothek verlegt. Und das „Barbara Jungfer Quartett“ vertrat würdig die verhinderten „JazzoCrazz“. Mit Eigenkompositionen, Jazzstandards und moderner zeitgenössischer Musik swingt, bluest und funkt die Band zwischen den einzelnen Lyrik-Blöcken. Elegant fließen ihre mit Vehemenz und Ausdruck vorgetragenen Stücke durch die Zuschauerreihen und verhallen angenehm in den Bücherregalen. Als erste Vortragende gibt Julia Schoch Einblicke in ihre depressiven Natureindrücke. Bevor die Schwermut triumphierend Einzug hält, kann Martin Klemt die Zuhörer mit seinen bildlich-vergleichenden Gedichten in den Bann ziehen. Mit Jürgen Becker und Volker Braun konnten die Veranstalter zwei namhafte und mehrfach ausgezeichnete Künstler ins literarische Boot holen. Jürgen Becker galt mit seinen Kabarettauftritten als Geheimtipp bis er 1992 die Kult-Kabarettsendung „Mitternachtsspitzen“ im WDR übernahm. Für „Grüne Träume“ fischte er in seinem reichen Pool an Gedichten, die er seit Anfang der 70er veröffentlicht. Auch gibt er dem Publikum die Möglichkeit sich mit dem unveröffentlichten Gedicht „Unbekannte Pilze“ bekannt zu machen. Der in Dresden geborene Volker Braun bringt mit seinen gesellschaftskritischen Gedichten auch brisante und hochaktuelle Themen zur Sprache. Etwa so: Arbeitsloser Akademiker zu arbeitendem Akademiker: „Eine Bockwurst bitte!“. Der Wahl-Berliner lässt es sich nicht nehmen in seiner Lyrik immer wieder seine Geburtsstadt aufleben zu lassen: „König Kurt“ und „Maler Penck“ dürfen als Hauptdarsteller in seinen Gedichten agieren. Bei Sonja Schülers Vortrag lernen wir: Der Mensch hat nicht nur ein gestörtes Verhältnis zur Natur, wie ihre Gedichte eindrucksvoll belegen, sondern auch zu seinem näheren Umfeld: selbst in Zeiten von polyphonen Klingeltönen ist das Handyklingeln (zu Recht) immer noch nicht als musikalische Untermalung angesehen und akzeptiert. Abschließend bringt Frederike Frei ihre „Blumen-Steckbriefe“ zur vollen Entfaltung. Pathetisch, erfrischend offen und ausdrucksvoll rundet sie den Abend mit ihrer „blumigen“ Lyrik ab. Da wird die Magnolie zur wahnsinnigen Feldherrin und die Nelke zur angehimmelten Sexgöttin. An den Stehtischen wird schon lautstark und heftig diskutiert, Rotweingläser klirren und um die Band wuseln aufgeregt die abbauenden Techniker. Barabara Jungfer und ihre drei Begleiter scheinen von alledem nichts mitzubekommen. Die Titanic sinkt, das Orchester spielt „Old Devil Moon“, selbstvergessen bis zum letzten Ton. Christoph Henkel
Christoph Henkel
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