Kultur: Die Ware Mensch
Premiere von „here is the carrot!“ in der Reithalle
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Es ist ein schönes Tohuwabohu, ein Zugleich und Überall. Wer am Donnerstagabend die Premiere der Theaterperformance „here is the carrot!“ besucht, findet statt einer Bühne die ganze Reithalle in ein Spielfeld verwandelt und hat auch nicht den Hauch einer Chance, sich still in ein Eckchen zu setzen, um sich das agile Treiben einfach nur anzuschauen. Denn jeder der gut 50 Gäste wird sofort aktiv in das Stück miteinbezogen, lässt sich sichtlich vergnügt in kleinere Gruppen einteilen und folgt fortan den Animateuren gleichenden jungen Schauspielerinnen und Schauspielern von einem Ort des Geschehens zum nächsten. Ein Theater ganz ohne Korsett.
Es ist nicht immer ganz leicht, den Durchblick zu behalten und in den stets gleichzeitig ablaufenden Performances sofort die Arbeitsstrukturen unserer modernen Leistungsgesellschaft zu erkennen, jene Haifischbecken, in die junge Menschen geworfen werden, wenn sie ihre Arbeitskraft als Ware ständig polieren und bestmöglich, doch oft unter Wert verkaufen müssen. Doch lässt man sich ein auf dieses experimentelle Spiel, das die drei Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaften der Universitäten Gießen und Hildesheim, Anne Mahlow, Paul Röwert und Ola Stankiewicz, gemeinsam mit neun Mitspielern erarbeitet haben, dann scheinen plötzlich genau diese Arbeitstrukturen auf. Dann zeigt sich hinter den vielen ironisch absurden Albernheiten, hinter dieser Art Persiflage einer Mitarbeiterschulung, tatsächlich die hässliche Fratze einer Gesellschaft, in der sich das Individuum längst selbst entfremdet und brutalen Marktgesetzen unterworfen hat.
Besonders schön demonstrieren dies Paul Röwert und Biene Klingenberg in ihren Rollen als penetrant gut gelaunte Motivationstrainer, dank denen ein Häufchen Gäste nach dem anderen, mittels einer Kombination aus Gymnastik und pantomimischem Kaffeetrinken, Multitasking lernen kann, um im Berufsleben künftig Höchstleistungen zu erzielen. Nicht weniger lächerlich geht es zeitgleich in der mit Bettlaken zugehängten „Schlafstation“ zu, wo die Teilnehmer, zur Steigerung ihrer Leistungs- und Reaktionsfähigkeit, auf Kommando ein achtminütiges Kraftnickerchen halten sollen, derweil ein weiteres Grüppchen in einer anderen Ecke, der „Küchenstation“, tatsächlich aus Mohrrübenschalen Unmengen von Tischdekorationen basteln muss. Weil das Ergebnis, wie schon zu erwarten, wenig befriedigend ausfällt, endet auch dieser Kurs mit der obligatorischen Diskussion über die Optimierung der Teamfähigkeit. Und selbst beim Verweilen auf den Sitzreihen im eigens angezeigten Wartebereich wird man beobachtet und mit einem seltsamen Wartezeugnis bewertet, welches einem bewusst machen soll, dass man seine freie, untätige Zeit fortan doch sinnvoller nutzen könne.
Oft blickt man sich um inmitten des munteren, aus vielen Ecken tönenden und durchaus nie langweiligen Spiels. Manchmal weiß man nicht so recht, wer zu den Schauspielern, wer zu den Gästen gehört und ob etwa auch eine vereinsamte Spielkonsole zu den Requisiten zählt. Am Ende jedoch zeigt diese neue Produktion des Theaterjugendclubs ganz gut, dass junge Menschen auf dem heutigen Arbeitsmarkt wie ein Esel so mancher Karotte nachlaufen müssen, die man ihnen vor die Nase bindet. Und dass sie im Unterschied zum Esel nicht stehen bleiben dürfen, wenn sie unsicheren Boden betreten sollen. Daniel Flügel
Wieder am heutigen Samstag, 19.30 Uhr, in der Reithalle, Schiffbauergasse
Daniel Flügel
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