Kultur: Die zarteste Bach-Versuchung seit es Herreweghe gibt
Bei den Musikfestspielen: Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent im Nikolaisaal
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Bei den Musikfestspielen: Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent im Nikolaisaal „Joa, is'' denn heit'' scho Weihnachten?“, mag sich mancher im vollbesetzten Nikolaisaal fragen, als ihm jene rauschhafte Einleitung mit Pauken, Oboen und Trompeten im kraftvoll akzentuierten Dreiachteltakt ins Ohr dringt, die man als Eingangschor „Jauchzet frohlocket“ der ersten Kantate von Bachs „Weihnachtsoratorium“ kennt. Wenn da bloß nicht der komische Text gewesen wäre: „Tönet ihr Pauken! Erschallet Trompeten“. Er und seine einprägsame Vertonung sind zuerst da (1733). Erst ein Jahr später finden Stücke aus dieser Huldigungskantate BWV 214 zum Geburtstag der sächsischen Kurfürstin und polnischen Königin Maria Josepha Verwendung im „Weihnachtsoratorium“. Bei sich selber klauen – oder vornehmer gesprochen: Parodieverfahren – nennen Musikwissenschaftler solches Gebaren, das sich im Zeitalter des Barock großer Beliebtheit erfreute. Neben dem Eingangschor „Tönet ihr Pauken“ sind es weitere drei Sätze, die mit verändertem Text spätere Verwendung finden. Die koloraturengespickte Alt-Arie „Fromme Musen“, von Ingeborg Danz schlank und beweglich angestimmt, findet sich als „Frohe Hirten“-Arie des Tenors wieder; des Basses Arien-Gratulation „Kron'' und Preis gekrönter Damen“, fulminant von Peter Kooij vorgetragen, als „Großer Herr und starker König“; der Schlusschor „Blühet, ihr Linden in Sachsen“ als Eingangschor „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“ zur dritten Kantate. Den in der Sopranarie „Blast die wohlgegriffnen Flöten“ beschworenen „jauchzenden Gesang“ löst Carolyn Sampson mit „süßer Freude“ restlos ein. Begleitet wird sie dabei vom gedeckten Klang der Traversflöte. Dem studierten Mediziner und Psychologen, Musikwissenschaftler und Dirigenten Philippe Herreweghe ist – gemeinsam mit dem Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent – dieses hinreißende Klangvergnügen am zweiten Tag der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci zu danken. Über den ebenfalls kitschigen Text zum Dramma per musica „Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“ BWV 207 muss schlichtweg hinweghören, wer auch hier Bachs Vorliebe zur Zweitverwertung köstlicher Einfälle erkennen will. Diesmal sind es die Brandenburgischen Konzerte, die dafür herhalten müssen. Hier treten die Solisten als allegorische Figuren wie Fleiß, Ehre, Dankbarkeit und Glück auf, um das Lob von Dr. jur. Gottfried Kortte anlässlich seiner Ernennung zum Leipziger Universitätsprofessor zu singen. Das exzellente Solistenquartett vervollständigt Mark Padmore (Tenor). Die Sänger haben ihre Parts total verinnerlicht und bedürfen keinerlei dirigentischer Leitgebung. Jede Gruppe des 16-köpfigen Kammerchors ist mit nur vier Stimmen besetzt. Trotz vorzüglichen Zusammenklingens bleibt die Individualität der einzelnen Stimme erhalten. Die Folge ist ein ungemein plastisches Gestalten, kein kraftprotziger, voluminöser und romantischer Einlullklang. So lernt man einen Bach voller Lebendigkeit, Leichtigkeit, Fröhlichkeit und aufblühender Leidenschaften kennen. Um das Maß des Glückes vollkommen zu machen, ertönt noch die Ouvertüre Nr. 3 D-Dur BWV 1068: strahlend und festlich, hinreißend lebhaft, vibratolos, herrlich direkt und präzise auf den Punkt gebracht. Die Genter Musiker pflegen die historische Aufführungspraxis auf entsprechenden Instrumenten. Den „Air“-Pophit spielen sie mit Geschmack, betörender Geschmeidigkeit und zartem Schmelz der Streicher als ein Liebesständchen. Die akribische, dennoch ganz spontan wirkende Lesart barocker Notentexte ist eine charmante und geistsprühende Antwort belgischer Barockkenner auf Nikolai Harnoncourts und der Niederländer Bemühungen um eine zeitgemäße Auslegung alter Klangrede. Die Genter werden darob enthusiastisch gefeiert. Joa, war des'' a scheene Bescherung. Peter Buske
Peter Buske
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