zum Hauptinhalt

Kultur: Doktor Murke

Hans-Jochen Röhrig liest Böll im Hans Otto Theater

Stand:

Am Sonntag war zur literarischen Matinee im Foyer des Neuen Theaters der Hall der 50er Jahre zu vernehmen. Vor Beginn der Lesung waren es die Schallwellen der „Schlager am laufenden Band“ aus jener Zeit, die aus Boxen vom roten Decken- und schwarzen Wandbeton reflektiert wurden. Eine Ansagerin, der Sabine Scholz ihre Stimme gab, suggeriert die fünfzig Anwesenden zu „uns, beim WDR“, dem Westdeutschen Rundfunk mit Sitz in Köln.

Die Reihe „Unglaubliche deutschsprachige Erzählungen“ begnügt sich nicht damit, dem einfachen Wort Gehör zu geben. Musik und Einspielung sollen den Hintergrund der Literatur bereiten helfen. Wie vom Theater erwartet. Bei Heinrich Bölls 1958 erschienener satirischer Erzählung „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“, die Hans-Jochen Röhrig einstündig vortragen wird, ist allerdings Obacht angebracht, nicht selbst in die vom späteren Literaturnobelpreisträger (1972) gegrabene Satirefalle zu plumpsen.

Denn der Held, Doktor Murke, ist als Rundfunkredakteur und Berufszyniker jederzeit bereit, beinahe jeden dorthinein zu stoßen. Bölls Text ist ein sehr frühes Beispiel für fundamentale Medien- und Kunstverwertungskritik. Der Redakteur – jung, promoviert, fest angestellt – besitzt nur noch einen Wert an sich: Das Schweigen, das er sich, im vordigitalen Zeitalter tatsächlich gegenständlich als kleine Magnetbandschnipsel, aus Beiträgen herausschneiden lässt, um es hintereinander geklebt zuhause zu genießen. Murke hält es kaum aus, die freien Autoren in der Kantine über „Kunst“ reden hören, und seine neue Aufgabe löst in ihm offenen Hass aus.

Er hat den Auftrag bekommen, aus Beiträgen des bekannten Autors und Kritikers Professor Bur-Marlottke über das „Wesen der Kunst“ den Begriff „Gott“ durch die Wendung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ zu ersetzen. Der Professor verlangte diese Änderung von seinem Freund, dem Intendanten, nachdem sich bei ihm „religiöse Bedenken“ eingestellt hatten. Murkes Rache für diese ungeliebte Arbeit ist subtil. Er bittet Bur-Marlottke grammatisch korrekt, die benötigten 27 Ersatzphrasen jeweils in drei verschiedenen Fällen einzulesen. Und aus dem Vokativ „Oh, Gott“ soll „Oh, du höheres Wesen, das wir verehren“ werden.

Das wiederum vom Band eingespielte Ergebnis der Schneidearbeit erheiterte in seiner offenen Sinnlosigkeit die Foyergäste. Nicht zuletzt deswegen, weil Hans-Jochen Röhrig für den Großintellektuellen Bur-Marlottke den oft parodierten Tonfall von Marcel-Ranicki wählte, dessen signifikanter, lispelnder Singsang immer für Lacher gut ist.

An dieser inszenatorischen Entscheidung zeigte sich, wie groß der Darstellungsraum selbst beim Vorlesen eines Textes sein kann. Historisch war dieser Effekt nicht zu begründen, ganz sicher war „MRR“ nicht gemeint. Reich-Ranicki kam (übrigens mit Unterstützung von Böll) erst Ende der 50er Jahre nach Deutschland. Seinen Ruf als Kritiker musste er sich damals noch erarbeiten. Emotional jedoch brachte dieser Kunstgriff den Text sofort in die Jetztzeit, und zur Frage, wie das noch zu den zuvor durch wiederkehrende Schlagereinspielung beschworenen 50er Jahren passen soll. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })