Kultur: Durchsichtig wie Gletschereis
Die verschiedenen Gesichter der Angst: Nordische Leseperformance im T-Werk
Stand:
Angst hat eine Farbe. Schwarz – bedrohlich und undurchschaubar. So wunderte es am Donnerstagabend im T-Werk niemanden, dass die Bühnenbildnerin Hanna Zimmermann mit dickem Pinsel die Folie auf dem Polylux schwarz strich, bis kein Licht mehr hindurchschien: Die eben noch weiße Wand, auf der das schwedische Wort „Angest“ geschrieben stand, wurde zur Projektionsfläche dunkler Seelenzustände, die die Berliner Schauspielerin Miriam Eberhard in ihrer Lesung nordischer Autorinnen beschrieb.
Nur wenige Zuhörer begaben sich mit ihr auf diese nicht ungefährliche „Fahrt“ durch aufschäumende Gischt und finstere Wälder, an schroffen Felsen vorbei über Gletschereis hinauf zu imaginären Gipfeln der Angst, deren Abgründe erschaudern ließen. Die Furchtlosen aber wurden belohnt. Denn aus dem bedrückenden Gefühl kann Mut erwachsen, wenn man der Angst ins Gesicht schaut, so wie es die Helden taten in den Märchen, Geschichten und Legenden, die Miriam Eberhard aus einem hier zu Lande unentdeckten Fundus schwedischer Literatur ausgewählt hatte.
Als die Schauspielerin mit dramatischem Ton von einer todesmutigen Seeräuberjagd durch die mörderischen Paternosterschären berichtete, lichtete sich das Schwarz an der Wand, und Hanna Zimmermann ließ die Zuhörer wie durch ein Fernrohr schauend die Szenerie in kreisrunden Illustrationen verfolgen. Die einzelnen Folien auf dem Polylux übereinanderschiebend, entstanden vor dem Auge des Betrachters mehrschichtige Bilder, eben so, wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn ihr die Angst im Wege steht. War dies nicht bedrohlich genug, so sorgten dumpfe elektronische Klänge unter nordisch klarem Frauengesang für Unbehagen. Sanftmütige Lieder, Volksweisen und altertümliche Gesänge zwischen den Texten aber ließen das Gehörte nachklingen.
Die schwedischen Autorinnen zeichneten verschiedene Gesichter der Angst: In dem Märchen vom „Zauberritt“ von Anna Wahlenberg muss der Held befürchten, zu spät zu seiner Liebsten zu kommen, weil er es nicht übers Herz bringt, eine verletzte Alte hilflos am Wegesrand zurückzulassen. Auch der vor einem Wolfsrudel fliehende Bauer in einer Geschichte von Selma Lagerlöf steht vor dem Konflikt, ein Bettelweib zu retten und sich dabei selbst in Gefahr zu bringen oder mit seinem Schlitten weiter zu fahren, später aber keine Seelenruhe mehr zu finden. Beide überwinden ihre Angst durch eine mutige Entscheidung.
Die hechelnde Wolfsmeute übrigens ließ Hanna Zimmermann per Scherenschnitt mit ihrer verblüffend simplen wie eindrucksvollen Polyluxtechnik über die schneeweiße Wand hetzen. Für die folgende Liebesgeschichte von Sophie Tieck von Knorring legte sie zarte Gräser auf die Folie. Dahinein setzte sie einen träumenden Prinzen, der vor dem vorgezeichneten Lebensweg im Königshaus geflohen war, um sein Glück in der Fremde zu suchen. Als er zum Dank für den siegreichen Kampf gegen Riesen eine Prinzessin versprochen bekam, riss er abermals aus. Auch die Königstochter floh aus Angst vor der Heirat in den Wald. Dort erst, frei von Zwängen, konnten sie furchtlos einander begegnen.
So wie Miriam Eberhard beim Lesen das Bedrohliche mit Dramatik erfüllte und der Auflösung stets Kraft verlieh, so gab sie den bedrückenden Empfindungen schmerzliche Tiefe. Mit der einsam an einem Gletscher lebenden alten Agneta in Selma Lagerlöfs gleichnamiger Erzählung stellte sie die ängstliche Frage nach der Bedeutung der eigenen Existenz: „Wer hat Freude daran, dass ich lebe? Wen stört es, wenn ich nicht mehr bin?“ Die Alte überwindet ihren Schrecken vor dem Tod, indem sie für die Verdammten und Gepeinigten Leuchtfeuer entzündet. So ist am Ende die Angst nicht mehr schwarz, sondern durchsichtig blau wie Gletschereis.
Antje Horn-Conrad
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: