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Kultur: Düster satirische Zukunftsvision Kieztheater mit „Die Befristeten“ im T-Werk

Sie zelebrieren es als größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. In Elias Canettis Drama „Die Befristeten“, mit dem das Kieztheater am Mittwochabend im ausverkauften T-Werk Premiere feierte, kennen alle Menschen den genauen Tag ihres Todes.

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Sie zelebrieren es als größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. In Elias Canettis Drama „Die Befristeten“, mit dem das Kieztheater am Mittwochabend im ausverkauften T-Werk Premiere feierte, kennen alle Menschen den genauen Tag ihres Todes. Sie leben in einer geordneten, rein funktionalen Welt ohne Ängste und Ungewissheiten und tragen um den Hals eine Kapsel, in der Geburts- und Todeszeitpunkt eingetragen sind und statt eines Namens eine Zahl, die ihr jeweiliges Sterbealter angibt.

Es ist ein recht düster satirisches, in den 1950er Jahren entstandenes Stück, mit dem der Literaturnobelpreisträger Canetti an sein anthropologisches Hauptwerk „Masse und Macht“ anknüpfte. Seither bei Schülertheatern sehr beliebt, erlebt die mit zehn Potsdamer Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren inszenierte Aufführung, deren Proben im September 2011 unter der Leitung von Schauspielerin Kim Ehlers und der Regie-Studentin Maria-Magdalena Kwaschik begonnen hatten, auch an diesem Abend großen Zuspruch beim Publikum.

Was die jungen Akteure mit Klarheit, Intensität, viel Verve und beachtlicher Textsicherheit durchspielen, zeigt ein für das vermeintlich sorgenfreie Dasein konstruiertes Gesellschaftsmodell, darin sich doch längst eine andere Form sozialer Hierarchie etabliert hat und grellbunte Perücken die einzigen individuellen Merkmale sind. Die vielen verschiedenen, meist kürzeren Dialogszenen, in denen die Akteure „70“, „32“, „96“ oder auch nur „10“ heißen, zeigen es an: Die Alten sind Privilegierte, die Jungen gesellschaftlich Niedriggestellte. Überheblich und mitleidlos blicken jene auf diese herab, geben sich nicht ab mit solchen, denen nur ein kurzes Leben bevorsteht. Zudem haben sich die Menschen innerlich voneinander isoliert, ist es doch strengstens untersagt, sein aktuelles, gerade erreichtes Alter jemandem mitzuteilen. Einzig der Kapselan, eine von Moritz Siefert mit erstaunlicher Bühnenpräsenz dargestellte Scharlatangestalt, darf in die Kapseln schauen und den als Augenblick vorbestimmten Sterbemoment mit einer geradezu absurden Fröhlichkeit zelebrieren.

Auf der überwiegend nachtschwarzen, nur vom kalten Licht weniger Scheinwerfer beschienenen Bühne breitet sich rasch eine beklemmende Atmosphäre aus, welche die zehn Schauspieler, die fast alle in mehreren Rollen auftreten, dennoch immer wieder mit einer dezenten Prise Slapstick aufbrechen. Eher spärlich aber sehr wirkungsvoll eingesetzt sind die Requisiten, ein hohes Podest etwa, darauf der Kapselan hinter einer in Blumenkästen steckenden Reihe weißer Styroporköpfe einmal mit albernem Kindermegaphon zu seinen Untergebenen spricht. Einer von ihnen wohnt in einem kleinen Bergzelt am Bühnenrand und heißt „50“. Mit wachsender Festigkeit scheint Leon Hipp diese zentrale Figur immer weiter auszuloten, bis er schließlich seine Zweifel herausschreit, sich gegen das Gebot des vorherbestimmten Alters auflehnt und eine Revolution auslöst, die zur Ungewissheit des Todestages zurückführen soll, jedoch anders verläuft als erwartet.

Dass angesichts der vielen separat funktionierenden Szenen und Dialogpartien die Handlung nicht ein wenig gestrafft werden konnte und bis zum großen Schlussapplaus gute zwei Stunden vergehen, ist vielleicht die einzige Schwäche dieser ansonsten vollends überzeugenden Inszenierung, die mehr ist als bloßes Schülertheater. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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