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Der Schauspieler Michael Gerlinger.

© Marek Kucera

Interview mit Michael Gerlinger: „Effi Briest ist wie ein Tetris-Spiel“

Wie der Schauspieler Michael Gerlinger über die Potsdamer zum Fontane-Fan wurde – und warum seine Leselounge am Tag der WM-Eröffnung startet

Stand:

Herr Gerlinger, Fußballfan scheinen Sie nicht zu sein, sonst hätten Sie Ihre Fontane-Lesereihe nicht am heutigen Donnerstag gestartet.

Wegen des Beginns der WM, nicht wahr? Das war nicht unbedingt so geplant. Die Lounge wollte ich einfach nicht am Wochenende machen, sondern an Donnerstagen. Aus meiner Zeit in Hamburg weiß ich noch, dass das der beste Tag der Woche zum Ausgehen ist. Man sieht schon das Licht am Ende des Tunnels, aber die Leute sind auch noch nicht verreist oder so. Außerdem: Auf keinen der Termine fällt ein Deutschlandspiel, und das Eröffnungsspiel beginnt um 22 Uhr – da sind wir gerade fertig, wer unbedingt will, kann das also im Anschluss gucken.

Wie kamen Sie darauf, eine Fontane-Lesereihe zu starten?

Ich wohne jetzt seit fünf Jahren in Potsdam, seit drei Jahren habe ich das dringende Gefühl, mich an Theodor Fontane abarbeiten zu müssen.

Warum das?

Man trifft hier ständig Leute, die sagen: „Na kennen Se Fontane?“, und wenn man nachhakt, werden immer „Die Wanderungen“ erwähnt, sein Ribbeckergedicht – und das ist alles. Viele haben ein gefährliches Halb- bis Fünfzigstel-Wissen zu ihm. Ich selbst kannte von Fontane aber auch nur ein paar Gedichte und Effi Briest.

Michael Gerlinger, geb. 1967 in Konstanz am Bodensee, ist Film- und Theaterschauspieler. Gerlinger studierte Schauspiel in Hamburg und spielte am dortigen Thalia Theater. Später folgten Gastengagements in Berlin, Leipzig, und Stuttgart.

Immer wieder inszeniert Gerlinger auch lyrisch-musikalische Abende, etwa mit Werken von Rio Reiser, Paul Celan, Heinrich Heine und Ernst Jandl. In der Großproduktion „Leviathan“ von Kommando Himmelfahrt spielte er 2012 den König. Aktuell steht er für die ZDF-Produktion „Marthaler“ vor der Kamera.

Gerlinger lebt seit 2008 mit seiner Frau und den fünf gemeinsamen Kindern in Potsdam.

Das Unwissen der anderen hat Sie also herausgefordert?

Ja, damit nerve ich auch meine Frau oft. Wenn ich merke, dass ich viel über etwas nachdenke, ohne wirklich etwas darüber zu wissen, dann fange ich an zu graben. Dazu kam in diesem Fall: wenn man Bilder von Fontane sieht, sieht man immer zugleich den deutschen Kaiser oder Bismarck vor sich. Das liegt an diesen Backenbärten, die die alle hatten. An der Art des Auftretens – und bei den Fontane-Porträts natürlich auch an den Künstlern dieser Zeit, die ihn in Szene setzten. Dadurch war er mir anfangs immer unsympathisch. Mit diesem herrischen Getue komme ich nicht so klar.

Aber etwas hat Sie offenbar doch berührt.

Ja, ich habe mich dann reingelesen und erst einmal eine ganze Reihe Biografien gelesen. Und da stellte ich fest: Fontane war ja gar nicht so ein Despot wie Goethe. Ich habe gemerkt, der hatte eine gebrochene Vita – und so etwas fasziniert mich immer viel mehr. Auch bei Hölderlin oder Kleist. .

Apropos Frauenfiguren: Sie werden auch viel aus dem Briefverkehr zwischen Fontane und seiner Frau Emilie vorlesen. Was war das für eine Frau?

Sie war adoptiert, sah als Kind aus wie ein Freak neben den anderen Kindern in der Nachbarschaft – aber sie war auffällig, sinnlich. Die hatte was. Auch etwas Fremdes. Vermutlich braucht einer, der Geschichten erspinnt, jemanden, der ihn inspiriert. Nicht nur jemanden, der ihn beschützt, sich um Kinder und Herd kümmert. Emilie hingegen blieb immer geistig autark, hat sich später um seine Reinschriften gekümmert, auch selbst Kritiken geschrieben.

Wie würden Sie deren Beziehung beschreiben?

Die haben sich unglaublich gebraucht, das merkt man schon an den Briefen, den Gedichten, die er ihr geschrieben hat. Allerdings litten sie auch unter den finanziellen Zwängen: Nach seinem Antrag haben sie erst einmal fünf Jahre lang nicht geheiratet. In der Zeit während sie verlobt waren, so habe ich es in einer Biografie gelesen, bekam er zwei uneheliche Kinder von irgendwelchen anderen Damen in Dresden, wo er gearbeitet hat. Naja, Fontane war schon ein hübscher Kerl, das sieht man auf den Jugendbildern.  Er war auch länger in London, ohne sie, er hat sie vermisst, aber sie brauchten das Geld

Als Schriftsteller war er lange erfolglos.

Ja, ich denke, erst in den letzten Jahren seines Lebens hatte er ein ganz passables Auskommen. Davor hat er oft auch ganz andere Jobs gemacht, war Journalist, weil er das Geld brauchte. Eigentlich aber musste er immer Geschichten schreiben. Manche Ideen ließ er jahrelang liegen, bis er dann Muse hatte, die auszuarbeiten.

Was gibt es denn am ersten Abend der Fontane-Lounge zu hören?

Ich werde ein paar Geschichten lesen, die zeigen, wie er und Emilie sich kennengelernt haben, wie sie als Frau getickt hat, wie er getickt hat. Dass beide keine Kinder reicher Eltern waren. Das geht ja auch aus seiner Autobiografie hervor.

Eine Autobiografie – damals schon. Das assoziiert man eher mit Halbprominenten heutzutage.

Ja, diese Pseudo-Biografien, „Ich bin ein Depp, holt mich hier raus!“ Wenn man dagegen Fontane liest, mit welcher Schönheit er da schreibt, wie wunderbar er Menschen beschreiben kann. Deswegen lese ich auch aus Effi Briest am ersten Abend.

Gleich zu Beginn aus seinem wohl bekanntesten Werk?

Ja. Zum einen, weil es so eine außergewöhnliche Frauenfigur ist, die auch noch von der eigenen Mutter verkauft wurde, und zum anderen geht es da ja auch um Liebe, darum, wie bekomme ich das hin mit der Liebe. Doch anders als bei Fontane und seiner Emilie, die es ja trotz aller Schwierigkeiten geschafft haben, die ihr ganzes Leben zusammenblieben. Und dann ist Effi Briest schon ein Wahnsinnstext. Man denkt sich zwar immer: Muss Fontane so viel schreiben, um das zu sagen? Aber das muss er.

Warum?

Die Welt baut sich dadurch bei ihm im Hintergrund auf wie bei einem Tetris-Spiel, bei dem unablässig die Steine herabregnen. Und auf einmal hat man die ganze Gesellschaft wie ein Panorama vor sich. Und man begreift, was für eine harte Kämpferin Effi Briest ist. Eine, die weiß, dass sie erst auf die Schnauze fallen muss, um zu begreifen – und die es zugleich den Eltern so gerne recht machen möchte. Das ist also auch psychologisch sehr interessant – und man darf nicht vergessen, dass Fontane das vor Freuds Psychoanalyse geschrieben hat. Überhaupt sind seine Frauengestalten auffällig.

Woran liegt das?

Der hatte einfach ein anderes Einfühlungsvermögen als etwa Goethe, den ich tatsächlich eher als Despoten sehe – und dessen Frauenfiguren ich unglaublich langweilig finde. Aber wer das wirklich kennt, dass es mal nicht läuft im Leben, wer schlimme Situationen kennt – und eben nicht nur, weil man mal verlassen wurde –, ist viel empathischer. Der blickt nicht von oben herab auf die Menschen.

Dennoch: Die Gesellschaft, die Fontane so gut beschreibt, ist heute eine völlig andere als damals. Was können wir heute aus seinen Texten ziehen?

Das Grundproblem ist heute dasselbe: Warum reden die Leute nicht miteinander? Über unsere wahren Empfindungen, meine ich. Weil es sich nicht schickt, weil wir die Erwartungen der anderen kennen, sie nicht verletzen wollen. Zwischen Kindern und Eltern wird vieles nicht gesagt, aus falscher Rücksicht – und das zieht sich durchs ganze Leben.

Das Gespräch führte Ariane Lemme

Michael Gerlinger liest am heutigen Donnerstag von 19 bis 22 Uhr im Café Eden in der Lennéstraße 32 aus Fontanes Werk. Weitere Termine am 19. Juni sowie am 10 und am 17. Juli, jeweils von 19 bis 22 Uhr

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