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Kultur: Ein bisschen Pop darf sein Das Viktoria Tolstoy Quartett im Nikolaisaal

Der große Ansturm ist ausgeblieben. Zum Glück.

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Der große Ansturm ist ausgeblieben. Zum Glück. So sind am Mittwochabend die Türen zum Nikolaisaal verschlossen, muss das Viktoria Tolstoy Quartett, muss das Publikum mit dem kleineren Foyer vorlieb nehmen. Gut, im Saal sind die Sitze bequemer. Aber die Atmosphäre! Das ganz Persönliche, dass der Jazz in einer Viererformation entfalten kann, dazu braucht es einen kleinen Raum. Und da haben wir das Foyer schätzen gelernt.

Auch Viktoria Tolstoy und ihre drei Musiker scheinen diesen dunklen, kühlen Raum zu mögen. Diese ganz besondere Nähe zum Publikum, dieses Dicht-dran-sein. Später am Abend wird Viktoria Tolstoy in die erste Reihe blicken und sagen, dass sie nur in glückliche Gesichter schaue und sie dieser Anblick noch viel glücklicher mache. Mal abgesehen von dem Floskelgehalt derartiger Bemerkungen: In dieser einfach-komplizierten Wechselbeziehung steckt alle Philosophie, die ein gutes Konzert ausmacht. Ist das Publikum glücklich, sind es die Musiker auch und umgekehrt.

Viktoria Tolstoy ist blond und bildschön, das liest man immer wieder. Und natürlich, an diesem Abend in Potsdam ist das nicht zu übersehen. Auch dass die Schwedin die Ur-Urenkelin des russischen Schriftstellers Leo Tolstoy ist, wird gern erzählt. Nette Anekdoten, die ein wenig schmücken. Für die Sängerin dürften sie oft genug nur lästiges Beiwerk sein, schließlich geht es um ihre Stimme. Und da blieben am Mittwochabend keine Wünsche offen.

„My swedish heart“ heißt das aktuelle Album, mit dem das Viktoria Tolstoy Quartett derzeit durch Deutschland tourt. Zwölf Jahre nach ihrem Debüt „Smile, Love and Spice“ das mittlerweile vierte Album von Viktoria Tolstoy im Jazz-Ressort. Und mit dem ersten Lied „Grandmas Song“ von „My swedish heart“ eröffnen die vier Musiker das Konzert. Es kommt einem langsamen Herantasten gleich, wie sich das Viktoria Tolstoy Quartett durch die ersten Lieder spielt. So, als wollte man erst einmal eine Bestandsaufnahme machen: Wie verstehen wir uns heute?

Viktoria Tolstoy ist stimmlich von Anfang an bester Dinge. Klar und samtweich, ausdrucksstark und verspielt, fernab jeglicher akademisch-verschulter Kehlkopfgymnastik macht sie selbst aus den trivialsten Liebeslieder packende Geschichten. Die vielen Versprechen und Ewigkeitsansprüche an die Zweisamkeit werden dadurch zwar nicht glaubwürdiger, klingen aber wunderbar. Pianist Jakob Karlzon, Bassist Hans Anderson und Schlagzeuger Peter Danemo stellen spätestens im dritten Lied fest: Wir verstehen uns heute blendend. Und dann greift das Viktoria Tolstoy Quartett behutsam in die Vollen und zeigt, wie man den Jazz zu handhaben hat.

Mittelpunkt bleibt immer Viktoria Tolstoy. Singt sie, bleiben Karlzon, Anderson und Danemo nur Staffage. Musikalisch auf hohem Niveau, aber ausgebremst. In den Pausen dazwischen aber! Da lockt Karlzon die Improvisationen aus dem Flügel, pokert er mit Bassist Anderson um den punktgenauen Einsatz und verwischt Danemo am Schlagzeug den Rhythmus und bricht den Takt, das es eine Freude ist. „Equilibrium“ swingt mit halsbrecherischer Ausgelassenheit, das leicht vertrackte „Things that happen“ kommt in professionellste Beiläufigkeit und die Ballade „Love is real“ – einfach zum Niederknien. Gerade die langsamen Töne in Moll liegen dem Viktoria Tolstoy Quartett, das dem Zuhörer nicht selten der berüchtigte Klos im Halse hängt. Gefühl statt Intellekt. Die Musik selten nur angenehm verkopft, immer aber mit dem Hinweis versehen: Ein bisschen Pop darf sein. Nach zwei Zugaben ist dann endgültig Schluss. Nach Hause gehen, will danach aber so recht niemand. Dirk Becker

Dirk Becker

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