Kultur: Ein geschickt gefädelter Abend
Schüler des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder brachten Marivaux und Kleist auf die Bühne
Stand:
„Hatten Shakespeare, Goethe, Schiller hier wieder einmal Unheil angerichtet?“, fragte 1803 ein anonymer Kritiker, als er die ersten Bögen des Ritterdramas „Familie Schroffenstein“ anlas. So unbekannt dem wackeren Mann der gleichfalls anonyme Verfasser anmutete, so fremd dürfte dem freitäglichen Theaterpublikum vielleicht die Einladung nach Hermannswerder zu der „Familie Ghonorez“ erschienen sein. Es handelt sich um die erste Fassung des obigen Dramas, eine blutrünstige Tragödie, worin auf Grund eines merkwürdigen Erbvertrages zwischen den spanischen Clans der Gossa und Ciella die jeweils andere Seite in den Besitz des gesamten Vermögens kommt, falls die eine ausstürbe. Klar, dass da „feindlicher Nachwuchs“ böse beäugt wird. „Romeo und Julia“ stand dem jungen Dichter Kleist shakespearisierend Pate. Während sich die Familien nun gegenseitig und reihenweise abschlachten, findet sich mit Rodrigo (Ulli Palm) und Ignez (Franziska Cantner) wie in Verona Liebe zu Liebe. Die Sache geht böse aus: In der Annahme, die jeweilige Gegenseite ins Herz zu treffen, töten die feindlichen Väter in den Liebenden ihre eigenen Kinder. Spät folgt Versöhnung durch Handschlag. Schaudernde Wollust, Machtwahn, Leidenschaft, Täuschung – der „rüstige Kämpfer um den poetischen Lorbeer" hatte in Shakespearescher Größe Liebe und Schicksal selbst auf die Bühne gebracht.
Der Grundkurs Darstellendes Spiel 13/2 des Hermannswerderaner Gymnasiums nahm das kaum bekannte Stück dankenswerterweise auf und verband es mit Marivaux’s galantem „Spiel von Liebe und Zufall“ zu einem langen, aber erbaulichen Theaterabend. Projekttitel: LIEBE-MACHT-ZUFALL, da war alles drin.
Für Kleists vielköpfige Personage stand dem ersten Team die Inselkirche offen, Altar, der Mittelgang, sogar die Emporen. Große Gänge, viel Engagement und Leidenschaft, aber nicht immer penetrierende Stimmen kennzeichneten Hans-Albrecht Webers spannungsvolle Inszenierung, welche sich durch heutige Konfektion wohlweislich der Gegenwart versicherte, mit Foto- und Video-Einspielungen sogar die Unmittelbarkeit des Spielortes wiedergab. Herausragend das intensiv agierende Liebespaar und das „Ave verum corpus“ (KV 618) Mozarts, vom Chor der Sekundarstufe II (Leitung Kantor Schönherr) live auf der Orgelempore gesungen, während das Grundmotiv „Gier nach Besitz“ bei allem Machtgebaren etwas zu kurz kam. Am Schluss gab es, wie schon von damaligen Rezensenten befürchtet, ein paar unfreiwillige Lacher. Trotzdem natürlich Chapeau.
Nach so viel Barbarei und einem kräftigen Pausensnack hatte „Das Spiel von Liebe und Zufall" auf der Bühne des benachbarten Gymnasiums klassisch-karthartische Wirkung. Marivaux galt ja im 18. Jahrhundert mit seinen 30 Komödien und vielen Romanen als Spezialist in Sachen Liebe: Bevor die Adligen Silvia (Isabelle Liere, sehr begabt) und Dorante (Michael Vogel) heiraten, beschließen beide unabhängig voneinander, den künftigen Gatten zu prüfen, indem sie mit ihren Domestiken die Rollen tauschen. Die kecke Lisette (Isabel Hagen) und Pasquin (Paul Schaffran als clowniger Arlequin) spielen nun Herrschaft, jene Bediente.
Hans Weber inszenierte die ersten Akte mit Tempo und Verve, gleichwohl Dorante in seinen Part diese nicht fand und auch Silvias Bruder Mario (Fanny Fichtner) etwas blass blieb. Die anderen entzückten den Saal mit Feuer und Eifer. Dem „Zufall“ beim Lieben auf die Spur zu kommen, war dem kleinen Ensemble trotz historischer Kostüme nicht mehr vergönnt, zum Ende hin gab es etliche Texthänger, welche man freilich verzieh; er ist ja auch eine besonders heimliche Größe. Viel, viel Beifall für einen geschickt gefädelten Abend ganz im Sinne von Kleist: „Und was ist des Strebens wert, wenn es die Liebe nicht ist!“
Gerold Paul
Gerold Paul
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