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Kultur: „Ein gutes Ende ist unaufrichtig“

Andrea Maria Schenkel stellt morgen in Potsdam ihren Bestseller „Tannöd“ vor

Stand:

Frau Schenkel, lassen Sie uns über das Böse reden. Verfolgen Sie die Mörder Georg Hauer aus „Tannöd“ und Josef Kalteis aus „Kalteis“ eigentlich noch in ihren Gedanken?

Nein, überhaupt nicht. Sobald so eine Geschichte abgeschlossen ist, verfolgt mich niemand mehr. Außerdem mag ich den Georg Hauer sehr.

Der Georg Hauer, der sechs Menschen, darunter ein achtjähriges Mädchen und einen zweijährigen Jungen mit einer Spitzhacke erschlägt?

Eigentlich sollte man jemanden, der so viele Menschen auf so bestialische Weise umbringt, nicht mögen. Aber ich mag ihn immer noch recht gern.

Das müssen Sie jetzt genauer erklären.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich die Passagen über Georg Hauer wahnsinnig gern geschrieben habe. Denn dieser Georg Hauer ist der einzige, der Anteilnahme zeigt in diesem Buch. Der einzige, der menschlich ist.

Der sechsfache Mord als ein Akt von Menschlichkeit?

Er begeht diese grausame Tat und vielleicht gerade aus dem Grunde, weil er der einzige ist, der tatsächlich zu Empathie fähig ist.

Sie sind Georg Hauer und Josef Kalteis in Ihren Romanen sehr nah gekommen, sind ihnen tief in die Psyche gekrochen. Woher diese Faszination für das Böse?

Das ist schwierig zu erklären. Es fasziniert mich einfach. Schon als Kind haben mir die gruseligen Märchen besser gefallen als die sentimental-lieblichen. Ich kann mich an eine Aufführung von Hänsel und Gretel erinnern, wo die Hexe am Schluss tatsächlich immer in einen Ofen gesteckt und verbrannt wurde. Ich fand es immer schade, dass die Hexe im Märchen so enden muss. Bei der Vorführung war ich dann besonders glücklich, dass es hier nur Spiel war und die Schauspielerin hinten wieder aus dem Ofen rausgekrochen ist.

Es ist nicht nur die Faszination, die Sie als Schriftstellerin treibt. Der Erfolg Ihrer Bücher zeigt, dass auch der Leser das Schreckliche sucht. Ihr Debüt „Tannöd“ hat sich mittlerweile weit über 500.000 Mal verkauft. Für beide Bücher haben Sie den Deutschen Krimipreis bekommen.

Das Böse hat auf uns einfach eine wahnsinnige Anziehungskraft hat. Obwohl Krimis abschreckend wirken müssten, weil sie nur Mord- und Totschlag beschreiben, werden immer mehr Krimis gelesen. Auch in den Zeitungen lesen wir täglich die schrecklichsten Nachrichten. Wir lesen sie und sind auf der einen Seite abgestoßen, auf der anderen aber fasziniert.

Diese Faszination ist auch eine verstörende Erfahrung beim Lesen von „Tannöd“. Oft wird gesagt, dass sich dieses Buch mit seinen 120 Seiten schnell weglesen lasse. Doch erst wenn man es langsam und bewusst liest, ertappt man sich dabei, in gewissen Momenten sogar etwas Sympathie für den Mörder Georg Hauer zu empfinden.

Genau. Das Buch hat natürlich Nuancen, die man beim schnellen Lesen nicht bemerken kann. Mir passiert es immer wieder bei Lesungen, dass Leute zu mir kommen und sagen, so wie ich das Buch vorgelesen habe, so haben sie das nicht gelesen. Sie haben dann einen ganz anderen Eindruck bekommen, Dinge entdeckt, die ihnen beim ersten Lesen nicht aufgefallen sind und wollen oft nur noch ganz schnell nach Hause und das Buch noch einmal lesen. Das ist dann natürlich ein wahnsinnig tolles Kompliment.

Sind Ihre Bücher überhaupt Krimis?

Es sind keine typischen Krimis, sie widersprechen dem sogar. Ein typischer Krimi hat am Anfang das Chaos und die Zerstörung und dann kommt ein Hoffnungsträger in Form eines Polizisten oder Detektivs, der den Leser an die Hand nimmt und wieder alles in Ordnung bringt. Am Ende ist der Fall gelöst, wir können aufatmen und die heile Welt ist wieder da.

Ende gut, alles gut?

Ja, aber das interessiert mich nicht. Denn die Welt kann nach einem solchen Verbrechen nicht mehr so sein wie zuvor.

Bei Ihnen weiß der Leser am Ende der Bücher zwar mehr über die Verbrechen. Doch mit dem Monströsen der Tat bleibt er allein zurück.

Er steht noch immer mit dem Verbrechen allein da, es löst sich nichts auf. Bei mir als Leser hinterlässt ein Ende, bei dem alles aufgelöst ist, nur ein schales Gefühl. Das ist unaufrichtig. Denn wir hören jeden Tag von grausamen Verbrechen, wir haben diese Informationen, aber es ändert sich nichts. Wir müssen damit leben.

Wenn man Sie so hört, könnte man denken, Sie sind ein desillusionierter Mensch.

Ich bin komischerweise sehr optimistisch und relativ heiter.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Ihre Geschichten nicht beklemmend, noch abstoßend sind, sondern natürlich. Gewalt gehört zu unserem Zusammenleben. Trotzdem schrecken Menschen davor zurück, wenn sie damit auf diese Weise konfrontiert werden. Ihr Mann hat „Tannöd“ lange nicht lesen können, weil ihm das Geschriebene zu brutal erschien, eine Buchhändlerin sagte aus diesem Grund sogar eine Lesung mit Ihnen aus „Kalteis“ ab.

Ja, die Buchhändlerin hat die Lesung abgesagt, weil ihr das alles zu beklemmend war. Was für mich nicht nachvollziehbar ist. Denn alles was weniger direkt, weniger in die Tiefe gegangen wäre bei einem Sexualstraftäter wie Josef Kalteis, hätte das Ganze nur verharmlost. Es gibt Geschichten, da muss man einfach drastischer sein.

Was passiert bei Ihnen, wenn Sie sich diesen Mördern derart nähern, bis an den Rand des Erträglichen gehen. Sie können sich kaum mit der Aussage retten: Es ist ja alles nur Fiktion.

Beide Bücher basieren auf wahren Fällen. Hauptantrieb ist natürlich Neugier. Ich will wissen: Warum macht jemand so etwas. Es ist diese ewige Frage: Warum überspringt einer diese Grenze.

Das kennzeichnet ihren beiden Bücher auch. Es geht nicht um die Aufklärung der Verbrechen, sondern um die Geschichten dahinter, warum ein Mensch böse ist oder böse wird. Haben Sie darauf eine Antwort finden können?

Nein. Aber wenn ich diese Antwort einmal finden sollte, werde ich wohl mit dem Schreiben aufhören.

Schreiben als Prozess also, als Suche nach der Antwort?

Ja, schreiben auch als Versuch eine Erklärung zu finden dafür, was eigentlich nicht erklärbar ist.

„Tannöd“ und „Kalteis“ basieren auf zwei wahren Kriminalfällen. In „Tannöd“ verarbeiten sie einen ungeklärten Mordfall aus dem Jahr 1922, wo in Hinterkaifeck eine fünfköpfige Bauernfamilie und deren Magd auf brutale Weise erschlagen wurden. In „Kalteis“ greifen Sie den Fall des Johann Eichhorn auf, der in München zwischen 1934 und 1939 über 90 Frauen vergewaltigt haben soll, vier davon tötete und bestialisch verstümmelte. Liefert allein die Wirklichkeit die grausamsten Geschichten?

Ja, und vor allem die absurdesten. Nehmen wir den Fall Amstetten, wo ein Vater seine Tochter 24 Jahre in ein Kellerverlies steckt und mit ihr sechs Kinder zeugt. Wenn ein Autor eine solche Geschichte geschrieben hätte, dann hätte in den entsprechenden Kritiken gestanden, dass das alles derart an den Haaren herbeigezogen wäre und jeglicher realen Grundlage entbehren würde. Dem Autor hätte man eine Phantasie attestiert, die ordentlich mit ihm durchgegangen wäre.

Sie haben „Tannöd“ und „Kalteis“ als Fingerübungen bezeichnet. Ist das nicht etwas viel Bescheidenheit?

Ich bin noch immer überrascht darüber, was aus „Tannöd“ geworden ist. Eigentlich wollte ich ein ganz anderes Buch schreiben, das mir damals aber einfach noch zu schwierig von der Thematik her war. „Tannöd“ war im Grunde eine Verlegenheitslösung. Ein Ort, ein kurzer Zeitraum und ein begrenztes Personal. Dieser Roman ist wie ein Kammerspiel, das mir als erster Versuch, als Fingerübung einfacher erschien.

Aber eine sehr erfolgreiche Fingerübung.

Ja, und das macht mich immer wieder sprachlos.

Mit dem Erfolg von „Tannöd“ kamen auch Plagiatsvorwürfe auf. Der Journalist Peter Leuschner behauptete, Sie hätten aus seinen Fachbüchern über den Mord von Hinterkaifeck abgeschrieben.

Diese Vorwürfe sind zum Glück mittlerweile vom Tisch.

Der von Ihnen angesprochene Roman, den Sie schon immer schreiben wollten, haben Sie damit schon begonnen?

Ja, aber ich verrate nur so viel: Ich liege hoffnungslos hinter meinem Zeitplan. Eigentlich müsste mein Tag derzeit 48 Stunden haben.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Andrea Maria Schenkel liest aus „Tannöd“ morgen, 20 Uhr, in der Druckerei Rüss, Ulanenweg 4. Der Eintritt kostet 12, ermäßigt 10 Euro. Karten können vorbestellt werden unter Tel.: (0331) 280 04 52 oder (0331) 280 41 03.

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