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Kultur: Ein Maikäfer und sein fehlendes sechstes Bein
„Peterchens Mondfahrt“ in der Regie von Marita Erxleben am Hans Otto Theater
Stand:
Der freundliche Herr Sumsemann mit seiner Schweißerbrille auf der Stirn kann viel. Er weiß auf der Geige zu spielen, er kann tolle Figuren des Breakdance tanzen, vermag sogar auf dem Kopf Pirouetten zu drehen. Nur eines ist ihm ohne Hilfe nicht möglich, sein sechsten Beinchen wiederzubekommen, das ihm ein Holzdieb beim Abhauen eines Zweiges vom Leibe trennte. Dafür wurde der Übeltäter zwar von der Nachtfee auf den Mond gezaubert, aber wie bis dorthin kommen, zumal solche Ausflüge bis zur Zeit des Autors Gerdt von Bassewitz (1878-1923) nur Fantasten wie Münchhausen oder Jules Verne möglich waren. Auch dem freundlichen Maikäfer Sumsemann war dies gewährt, freilich muss er dafür zwei Kinder finden, die einem Tier noch nie etwas zuleide getan. Er hat Glück, in Peterchen und Anneliese findet er die lang gesuchte Unschuld. Nachdem der Maikäfertanz getanzt und Proviant eingepackt ist, machen sich die drei auf die nächtliche Reise.
So hat es der Offizier, Schauspieler und Schriftsteller Gerdt von Bassewitz dem Sanatoriumsdirektor Oskar Kohnstamm, dessen Kinder Peter und Anneliese rein zufällig drei und elf Jahre alt waren, als Dank für eine Kur gedichtet und zugeeignet. 1912 erlebte „Peterchens Mondfahrt“ am Leipziger Theater seine Uraufführung, kurz darauf wurde der Text mit den Illustrationen von Hans Baluschek als Buch veröffentlicht. Mehrfach verfilmt und auf Platte oder CD gebannt, ist diese Geschichte seitdem eine der schönsten Lektüren für unschuldige oder schlafmüde Kinderherzen.
In Kooperation mit der Ballettschule Marita Erxleben und dem „Spaß am Tanz e. V.“ brachte das Hans Otto Theater diese wunderbare Geschichte jetzt als „Kinderballett für die ganze Familie“ ab vier Jahren auf die große Bühne. Dies war wohl auch nötig, denn Marita Erxleben, für Regie und Choreografie gleichermaßen verantwortlich, hat für die kommende Aufführungsserie nicht nur mehrere Besetzungsvarianten erdacht, zur Darstellung aller möglicher Wesenheiten wie Traumkinder und Nachtfalter, Sternenmechaniker und Naturgeister, Mondbären und Taumariechen wurde auch eine fast unüberschaubare Zahl junger bis jüngster Tanzeleven aufgeboten, die ihre klugen, wohldurchdachten Choreografien in traumhaft schönen Kostümen meist auf der Vorbühne zeigten.
Damit waren die Weichen dieser einstündigen, sehr kinderfreundlichen Inszenierung bereits gestellt. Natürlich wurde, ein wenig seitab vom Original, die Geschichte von Peter (am Premierensamstag Maik Müller), seiner klassisch ausgebildeten Schwester (Anastasiya Yakymenko), des Sandmädchens (Kimberly Colditz) und des tapsig-sympathischen Sumsemanns und Breakdancers (Hawk) erzählt, die Liebe der Regie galt trotzdem wohl ein klein wenig mehr dem Tanz der Eleven als dem Lauf der zu erzählenden Geschichte, die einige Male gar hinter den durchsichtigen Zwischenvorhang verbannt wurde. Aber es war ein Ergetzen: An den klug gefundenen Tanzspielen der Kinder, an einer aus Ballettelementen und gestischem Theater montierten Choreographie der Hauptdarsteller, auch an den Wundern eines poetischen Bühnenbildes (Kostüme und Bühne Alexandra Hahn), die Geschichte vom Maikäfer, der vor Schreck immer die Starre bekommt, aber nicht sonderlich am fehlenden Beinchen litt, wurde trotz erlesener Schönheit der Stunde zu wenig betont. Wunderbar und hoch zu loben die Musikeinspielung von The Celtic Ceili Band im zünftigen Folklore-Stil. Gerold Paul
Wieder am 8. Juni um 11 Uhr im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse
Gerold Paul
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