Kultur: Ein offenes Ende
Die Neue Bühne Senftenberg gastierte mit „Der moderne Tod“ am Hans Otto Theater
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Schön zu wissen, dass es die gute alte Schule des Theaters noch gibt, den subversiven Ansatz eines Heiner Müller, die insistierende Tendenz der Brecht-Bühne, auch wenn das alles nichts mehr nützt. Sewan Latchinian, Intendant der Senftenberger Neuen Bühne und Regisseur des Stückes „Der moderne Tod“, sagte es beim dem Gastspiel im Hans Otto Theater selbst: „Theater orientiert sich heute (normalerweise) am Erfolg“. Inwieweit dem Text des schwedischen Autors Carl Henning Wijkmark „vom Ende der Humanität“ in Senftenberg ein solcher beschieden sein sollte, war angesichts des Themas lange nicht klar. Fragen nach der „gesellschaftlich wünschenswerten" Selbst-Abschaffung unproduktiver Leute durch ein vom Staat legitimiertes Euthanasie-Programm dort zur Premiere bringen, wo 40 Prozent der Stadt Senioren sind? Die Inszenierung, eine von zwei deutschen Ur- oder Erstaufführungen seit Veröffentlichung des gleichnamigen Buches 1978, gaben dem Theaterteam recht. Auch in Potsdam guter Besuch, man wurde auf die Bühne gebeten, um – als Statist oder möglicher Eingreifer – am fiktiven Rundtischgespräch des Teams „Dellem“ teilzunehmen. Die von einem „Sozialministerium“ einbestellte Elite war sich weitgehend einig, dass „die zehrende Gruppe“ für das Überleben aller Opfer bringen müsse. Weniger über den Weg. Rentner, Behinderte und Alkoholiker jedenfalls sollten aus der Zahlungsbilanz des Staates heraus.
Da sich Parallelen zur NS-Zeit scheinbar verbieten, suchen Ministerialdirektor Persson (Stefan Bergel), die Medizin-Ethikerin Storm (Sybille Böversen), Schriftsteller Rönning (wahrscheinlich die Position des Autors) sowie die Kirchenvertreterin Carnemo (Juschka Spitzer) den „demokratischen“ Weg, um der rechnenden Vernunft, die dreißig Jahre später tatsächlich alles beherrscht, zum Sieg zu verhelfen. Ein historisches Stück, wenn man so will. Demokratie oder Demographie? Hier wurde Theater subversiv, gesellschaftskritisch, nach Heiner Müller sogar zum „Laboratorium für soziale Phantasie“, obwohl der Autor sein Werk mit „Satire“ überschrieben hatte: Von dem aalglatten Moderator Till Demuth geleitet, brachte das Quartett manch rationale Argumente zum „Ende der Humanität“ vor. Auch Rönning stimmte zu, war allerdings mit den martialischen Methoden dieser an die „Bilderberger“-Gruppe erinnernden Geheimkabinetts nicht einverstanden. Nach der Pause trug Persson sogar noch „Plan B“ vor, welcher die möglichst gewinnbringende Verwertung der Gestorbenen durch die Industrie anstrebte – angesichts solch „modernen Todes“ war viel bitteres Lachen beim Publikum. Ein offenes Ende, Demuth entließ die gesellschaftlichen Vordenker mit dem fast drohenden Satz „Sie werden von uns hören!“ Es gibt Einwände gegen diese theatralische Vorlage: Latchinian, um Werktreue bemüht, organisierte sein „Diskussionsstück“ fast ohne doppelten Boden und leider ohne Zuschauerbeteiligung – wenigstens bei der zur Theologin gemachten Figur (bei Wijkmark männlich) hätte man eine diplomatischere Haltung zu derartigen Plänen erwarten dürfen.
Dritter Akt ein Publikumsgespräch mit dreißig Gebliebenen. Man redete wenig über die moderne Euthanasie, mehr von den Entartungen einer Demokratie, die solche Gedanken „eigentlich“ nicht zulassen dürfte, Humanität wurde nicht definiert. Aber die Wirklichkeit hat den Stoff längst eingeholt, bei der Sterbehilfe etwa. Ein wichtiger Abend. Gerold Paul
Gerold Paul
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